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Der historische Abstecher der Woche

Potsdam ist reich an Geschichte und Geschichten, die noch heute an den Bauwerken haften oder sich hinter ihren Fassaden verbergen. Hier gibt es zahlreiche Sehenswürdigkeiten von Rang, aber gleichzeitig auch viele vergessene Orte und tote Winkel der Erinnerung, um die es uns geht: Plätze, die abseits der beliebten Fußwege liegen, Denkmäler, die langsam einstauben, sowie historische Relikte, die man in der Hektik des Alltags oft übersieht. Jetzt nehmen wir uns die Zeit dafür.

Vielleicht gibt es für Sie noch etwas bisher Unbekanntes zu entdecken. Eventuell findet sich eine Stelle, an der Sie schon lange nicht mehr waren. Oder Sie möchten einfach ein wenig Abwechslung genießen. Denn hin und wieder lohnt es sich durchaus, beim Spazieren mal eine Querstraße früher als sonst abzubiegen, um später etwas Neues zu erfahren.

 

Dr. Marc Banditt, Foto: Monika Schulz-Fieguth

 

 

Ich lade Sie herzlich ein, mich dabei zu begleiten!

 

Dr. Marc Banditt

 

 

 

 

 

Beitrag zum "Historischen Abstecher" in den Potsdamer Neusten Nachrichten 

 

Beitrag zum "Historischen Abstecher" beim RBB

 

Übrigens: Dieses Angebot ist für Sie kostenlos. Spenden für die Unterstützung unserer Arbeit sind jederzeit willkommen!

 

 

 

Anklicken!

Für einen Überblick über alle bereits besuchten Orte in Potsdam und Umgebung klicken Sie einfach auf das nebenstehende Bild. Sie erreichen so eine interaktive Karte, in der Sie alle Orte, Text und Bilder finden, und die regelmäßig um die neuesten Beiträge aktualisiert wird.

Viel Spaß bei Ihren virtuellen - oder auch echten - Wanderungen!

Caspar David Friedrich: Ansicht eines Hafens

Episode 83

 

Schloss Charlottenhof

Vom Diebstahl eines Hafens

 

Eine diffuse Gemengelage an Koordinaten bestimmt zuweilen Potsdams Selbstsuche und -findung als Ort, dessen Platz auf der kognitiven Karte zwischen damals und heute, zwischen groß und klein, zwischen bedeutsam und banal sich ständig neu auszutarieren scheint. Hierzu ein möglicherweise riskant gewähltes Exempel zur Illustration: Der vielleicht populärste Maler der deutschen Romantik, Caspar David Friedrich, schuf 1815 die „Ansicht eines Hafens“, die ein Jahr darauf vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. erworben werden konnte. 180 Jahre später hing das Gemälde im Schloss Charlottenhof, ein pittoreskes Kleinod am südlichen Ausgang des Parks von Sanssouci, der seit 1990 zum UNESCO-Welterbe gehört. Bis zur Nacht des 7. Dezember 1996, als es zwei vermeintlichen Kleinkriminellen gelang, sich mit einem Kuhfuß Zutritt zu verschaffen, das Werk kurzerhand zu stehlen und sich spurlos aus dem Staub zu machen. Immerhin: Laut einem bekannten Nachrichtenmagazin reihte sich das Objekt seinerzeit zu den zehn kostbarsten Gemälden ein, die weltweit seit 1960 gestohlen wurden. Wohlgemerkt: Die meisten der Originale davon sollten nie wieder auftauchen. Nur wenige Monate darauf, am 3. März 1997, wartete eine Soko-Einsatztruppe in kugelsicheren Westen an einem nicht weit vom Tatort entfernten Garagenkomplex einer Plattenbausiedlung auf den Befehl zum Zugriff. Mit Erfolg. Die Tatverdächtigen – ein Tischler und ein Architekturstudent – können festgenommen, das wertvolle Raubgut geborgen werden. Die vorhergegangenen Überwachungsoperationen dazu förderten gleich mehrere, in den Vorgang verstrickte Personen zutage, die sich um das Prädikat zwielichtig beworben hatten. Alte Stasiseilschaften, Verbindungen zu einem lokalen Fußballverein, international agierende Hehlernetzwerke sollen eine Rolle gespielt haben. Eindeutig rekapitulierbar sind die genauen Zusammenhänge im Hintergrund kaum noch. Was am Ende zählte: Der anschließende Transport des Gemäldes nach Berlin, wo es bis heute sicher und sichtbar ist.

 

 

Sophi-Alberti-Str., Brunnenviertel, Potsdam, Foto: Marc Banditt

Episode 82

 

Brunnenviertel
„I must come to Potsdam after I have learnt German from your book“

 

Welche hierzulande beheimatete junge Literatin würde nicht mit Entzücken solch eine Zeile am Ende eines an Sie gerichteten Briefes lesen? Und erst recht, wenn der Absender ein international anerkannter und ein damals wie noch heute berühmter Meister seines Faches ist. Die am 5. August 1826 in Potsdam geborene Sophie Mödinger hatte – anders als viele Mädchen damals – den Startvorteil, als Tochter eines Geheimrats auf die Welt gekommen zu sein. Dergestalt wurde ihr eine breit gefächerte Erziehung zuteil, mit dem Ergebnis, dass Sophie in jungen Jahren eigene Gedichte und Komödien verfasste. Unter dem Pseudonym Sophie Verena erschien 1856 schließlich das druckreife Erstlingswerk „Else“, eine Erzählung über die gleichnamige Protagonistin, deren Leben, Liebe und Schicksal in einem gesellschaftlich gepressten Korsett einen Platz finden musste. Die Autorin selbst ehelichte 1866 den Schulrat Robert Alberti. Die Verbindung war kurz und kinderlos, auch weil ihr Gatte wenige Jahre darauf verstarb. Die Witwe blieb bis zu ihrem Tod (1892) in Potsdam wohnhaft. Doch zurück in das Jahr 1856. Ihr Debüt widmete die Schriftstellerin dem eingangs angesprochenen Korrespondenten, der zu diesem Zeitpunkt bereits die meisten seiner populären Romane veröffentlich hatte. Dessen Gefallen über die Ehrerbietung paarte sich mit dem Eingeständnis, dass er das Werk von seinem ältesten, über Deutschkenntnisse verfügenden Sprössling vorgelesen bekommen habe. Am Ende beschränkte sich die wechselseitige Korrespondenz auf nur wenige Briefe und – um es vorwegzunehmen – es gibt (bis jetzt) keinen Beleg, dass sich beide jemals hier in dieser Stadt oder anderswo getroffen haben. Aber wie gesagt, welche Potsdamerin konnte anno 1856 schon von sich behaupten, eine Postsendung in den Händen zu halten, die verfasst und signiert ist von: Your affectionate, Charles Dickens.

 

(Zitat aus: The Pilgrim Edition of Letters of Charles Dickens, Volume 8: 1856–1858, Oxford 1995, S. 105 / 30. April 1856)
 

 

August-Bier-Straße 5, Potsdam Babelsberg, Foto: Marc Banditt

Episode 81


August-Bier-Straße 5
Die Bratpfanne

 

 

Die Gegend sozialhistorisch vorgeprägt, der Stallgeruch noch fast vorhanden. Die Zweckentfremdung des Babelsberger Schlosses als Schauplatz für die Unterzeichnung der Verordnung über die Bildung der Deutschen Hochschule für Filmkunst durch Otto Grotewohl und Johannes R. Becher im Oktober 1954 bildete einen in Szene gesetzten Auftakt. Die Filmstadt Potsdam hatte nunmehr ihre hauseigene universitäre Ausbildungsstätte – als erste ihrer Art in Deutschland. Keineswegs nur als Kulisse für Lehrende und Lernende dienten fortan verschiedene Grundstücke und Anwesen der Villenkolonie Babelsberg. Mehrere Jahrzehnte lang waren die Einrichtungen der ab 1967 betitelten Hochschule für Film und Fernsehen der Deutschen Demokratischen Republik im ehemaligen Neubabelsberg untergebracht. Also im Prinzip dort, wo sich zahlreiche Stars und Sternchen der Ufa in der Zwischenkriegszeit ein mondänes Anwesen geleistet hatten. Ein Hauch Geschichte, der nach den Umbrüchen noch wehte. Aber was darf auf keinem Campus dieses Erdballs fehlen? Richtig, ein ordentlicher Studentenkeller mit integriertem Tresen, zur Not auch in der ersten Etage. Die „Bratpfanne“. Eingedenk der kreativen Grenzziehungsmaßstäbe im real existierenden Sozialismus bei gleichzeitiger, unmittelbarer Nähe zur real existierenden Mauer konnte ein kühles Getränk am Abend unter Umständen für temporäre Abhilfe gegen das eigene Seelenunheil sorgen, oder bei der Überwindung sprachlicher Barrieren gegenüber den Kommilitonen aus den Bruderstaaten. Wie dem auch sei: Was letztlich in der Bratpfanne passiert ist, bleibt natürlich auch in der „Bratpfanne“. Oder in den Erinnerungen der Beteiligten. Eine mögliche doppelte Bedeutung der Sprachschöpfung „Filmriss“ drängt sich in diesem Kontext mit Vehemenz auf und lässt sich nicht verhindern.

 

 

 

Neue Palais Potsdam, Foto: Nora Reimann

Folge 80

 

Am Neuen Palais
Der letzte Vorhang

 

Das Neue Palais. Erbaut von 1763 bis 1769 unter Friedrich II., nachdem sich sein Königreich durch den Siebenjährigen Krieg laviert hatte. Ein frühmoderner Waffengang, der aufgrund der damals aktiven Allianzen zuweilen globale Ausmaße annahm. Mit dessen Ausgang rückte Preußen in jenes Konzert der Großmächte Europas vor, welches maßgeblich die Weltordnung für die nächsten 150 Jahre bestimmte. Ein Schloss als steinernes Schaustück des Machtanspruchs. Ob ähnliche Gedankenfragmente Wilhelm II. während des Mittagessens am 5. Juli des Jahres 1914 durch sein Haupt gingen? Anschließend gab er in den royalen Räumlichkeiten am westlichen Ende von Sanssouci jene verhängnisvolle Einwilligung gegenüber dem österreichisch-ungarischen Botschafter László von Szögyény-Marich, die als „Blankoscheck“ in die Geschichte einging – der vermeintliche Wegbereiter in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Diskussion um die Schuldfrage ist im Prinzip älter als der erdumspannende Krieg selbst, dessen Ausgang zementierte aber unwiderruflich das Ende der europäischen Pentarchie. Die Welt hatte sich vom eurozentrischen Gebaren emanzipiert, die Politik ein Stück weit vom backenbärtigen Patriachat und ebenso Herrschaft von der Gnade Gottes. Davor ging schließlich auch der Kaiser in die Knie, als letzter seiner Art in diesem Land, und als letzter Bewohner des Neuen Palais.
 

 

 

"Wasservögel" von Horst Misch, 1984, Freundschaftsinsel, Foto: Marc Banditt

Folge 79


Lange Brücke
Sich über Wasser halten


Hilfe, die Insel ist geschrumpft! Ein flüchtig-vergleichender Blick auf den Stadtplan aus dem Vorkriegs- und aus dem Nachkriegspotsdam enthüllt die augenscheinliche Wirklichkeit einer sich drastisch verkleinernden Südspitze der Freundschaftsinsel. Nein, Entwarnung. Trotz der Gefahr steigender Wasserpegel hat die Freundschaftsinsel nichts von ihrer substanziellen Ausdehnung verloren. Die Ursache der verschobenen Wahrnehmung ist künstlicher Natur und lenkt unsere Aufmerksamkeit unmittelbar auf ein Bauwerk, dessen Bedeutung für die Stadt nicht zu hoch veranschlagt werden kann. Mit Fug und Recht lässt sich die Lange Brücke als Potsdams Hauptschlagader verstehen. Erstmalig erwähnt wird eine dort situierte Überführung im Jahr 1317, die gleichwohl nicht allzu lange existent geblieben sein mag. Ab dem Jahr 1416 sind die beiden Hälften des märkischen Eilands dauerhaft durch eine Brücke verbunden. Eine lange Zeit, wobei das historische Alleinstellungsmerkmal dieses Objekts noch mehr zum Tragen kommt in Anbetracht der Errichtung weiterer in näherer Umgebung befindlicher Exemplare (Glienicker Brücke 1662, Baumgartenbrücke 1676, Templiner Brücke 1956, Humboldtbrücke 1975). Und weil die Brücke während der vergangenen 600 Jahre viel aushalten musste, unterlagen Gestalt und Material einem stetigen Wandel. Aus Holz wurde Gusseisen (1825), aus Gusseisen wurde Stein (1888), aus Stein wurde Beton (1961). Nicht zu vergessen die Ausrichtung respektive die Brückenführung. Die 1945 gesprengte und anschließend behelfsmäßig entstandene Lange Brücke erlebte im Zuge des letzten Neubaus (von 1957 bis 1961) eine Verschiebung in Richtung Süden um ganze elf Meter. Betroffen war mitunter jenes Stückchen Erde, wo 1901 das Reiterdenkmal für Wilhelm I. seinen Platz fand. Darin liegt die logische Erklärung für die mutmaßliche Verkleinerung der Freundschaftsinsel, die sich im Übrigen im Laufe der Geschichte eher vergrößert hat. Aber dazu vielleicht ein anderes Mal.

 

 

Hans Geiger Weg auf dem Neuen Friedhof, Foto: Marc Banditt

Folge 78


Neuer Friedhof
Zwischen den Welten


Die Abwürfe der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Anfang August 1945 beschleunigten vorgeblich das Ende der Kampfhandlungen während des Zweiten Weltkrieges, läuteten aber zugleich ein neues Zeitalter ein. Schreckensvisionen bereiteten die nuklearen Massenvernichtungswaffen nicht allein anhand ihrer unvorstellbaren Zerstörungswucht, sondern ferner aufgrund der freigesetzten radioaktiven Strahlung. Toxische Teilchen und Wellen, die man nicht sehen, nicht riechen und nicht schmecken kann. Aber sie sind hörbar. Und zwar mithilfe eines Geräts, welches als Geiger-Müller-Zählrohr bekannt wurde. Johannes Wilhelm „Hans“ Geiger, geboren am 30. September 1882, studierte ab 1902 in Erlangen Physik und Mathematik. Zu diesem Zeitpunkt war die Entdeckung der Radioaktivität erst wenige Jahre jung. Nach seiner Promotion ging Geiger nach Manchester und stand dort Ernest Rutherford bei dessen Formulierung eines Atommodells zur Seite. Später, als gestandener und international anerkannter Wissenschaftler erhielt Geiger wiederum von seinem Doktoranden Walther Müller Unterstützung bei der Entwicklung des namensgebenden Detektors. Das war 1928/29 in Kiel. Sieben Jahre darauf übernahm er von Gustav Hertz den Lehrstuhl an der Technischen Hochschule im Westen Berlins. Und damit öffnete sich ebenfalls das Potsdamer Kapitel in Geigers Leben, der mit seiner Familie ein Haus in der August-Bier-Straße in Neubabelsberg bezog. Die vorhandenen, aber überschaubaren Biografien geben jedoch nur wenige Informationen über Privates aus dieser Zeit preis: Rheumatische Beschwerden, die Söhne im Krieg, am Haus Bombenschäden. Im Juni 1945 nahmen die Alliierten dieses in Beschlag, da es den Aktionsradius der Vorbereitungen für jene Potsdamer Konferenz tangierte, auf der grünes Licht für den Einsatz der neuen Waffe gegeben wurde. Die Geigers mussten in eine Notunterkunft umziehen. Der von seinem Schicksal entkräftete Mann starb am 24. September 1945 in Potsdam und fand auf dem Neuen Friedhof seine letzte Ruhestätte. Einige Jahre darauf ließen seine Nachkommen einen zweiten Stein aufstellen, auf einem Friedhof in West-Berlin. Weil aus der Welt eine andere geworden war.
 

 

Haeckelstraße 72/74, Foto: Marc Banditt

Folge 77


Haeckelstraße 72/74
„Eigentlich …


… wollte ich kein Eis mehr essen.“ – „Wenn man eingeladen wird, ist es so wie nicht gegessen.“ Schneidende Alltagsweisheiten verpackt in einem lebhaft-klugen Plot um das Gegen- und Miteinander von der dicken Tilla und der kleinen Anne. Der 1981 gedrehte und ein Jahr später (in DDR und BRD) ausgestrahlte Kinderfilm – basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage – versprüht auf universeller Ebene sein Esprit mithilfe zahlreicher fein gedroschener Phrasen wie etwa: „Wenn man sieht, wie feige die alle sind, könnte man selber richtig mutig werden.“ Oder: „Man kann die Ferne nie erreichen, weil immer, wenn man da ist, ist sie weg, weil sie näher geworden ist.“ Aus lokalhistorischer Sicht verspricht Werner Bergmanns Regiewerk den einen oder anderen Wiedererkennungsmoment einer vergangenen Architekturepoche. So gibt es für jeweils kurze Augenblicke das 1968/69 erbaute Haus des Reisens oder auch den Staudenhof zu sehen. Zentraler Dreh- und Handlungsort war allerdings  die Pablo-Neruda-Oberschule. Der chilenische Dichter und Diplomat Neruda erhielt 1971 den Literaturnobelpreis und verstarb am 23. September 1973 in Santiago de Chile, zwölf Tage nach seinem Freund und Vertrauten Salvador Allende. Beide wurden zu Namensgebern der im gleichen Jahr eröffneten Doppelschule in dem ebenso neu hochgezogenen Wohngebiet in Potsdam-West. Moment mal, Potsdam-West; wo beginnt es und wo endet es eigentlich genau? Streng betrachtet sind das knifflige Fragen, die verschiedene Antworten parat halten, weil – kurz gesprochen – diverse Grenzziehungsmodelle kursieren. Anlass für Zwist im Kiez? Eigentlich nicht. Und warum? (Es folgt nun als finales Filmzitat die Stimme eines Erwachsenen): „Weil man mit Vernunft am weitesten im Leben kommt. … Und jetzt trinkst du erstmal deine Cola.“
 

 

 

Gedenktafel an der Humboldtstraße 5-6, Foto: Marc Banditt

Folge 76


Humboldtstraße 5-6
Artur Rubinstein …

 

… zählt zu den talentiertesten Pianisten des 20. Jahrhunderts
… gilt als der größte Interpret der Werke von Frédéric Chopin
… wurde 1887 geboren
… feierte seinen letzten großen Auftritt im Mai 1976 in London
… gewann fünf Grammys
… schreibt sich in englischsprachigen Ländern mit „h“ (Arthur)
… sprach acht Sprachen
… gab in seinem ganzen Leben ungefähr 6.000 Klavierkonzerte
… nahm 1946 die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten an
… war ein Frauenheld
… gastierte seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr in Deutschland
… stammte aus Łódz
… absolvierte mit zwölf Jahren einen Auftritt im Palast Barberini

 

Also saß ich eines Winterabends mit Professor Barth im Zug nach Potsdam. Während der Fahrt – sie dauerte eine Stunde – gab Barth wie ein Boxtrainer mir unentwegt letzte Verhaltensregeln: „Wenn du aufs Podium kommst, verbeuge dich tief vor dem Publikum, dann etwas weniger tief vor dem Orchester. Stell den Klavierhocker so ein, daß er deine Bewegungen nicht beeinträchtigt. Schau nicht ins Publikum. Konzentriere dich auf das, was du spielen wirst, ehe du dem Dirigenten das Zeichen zum Anfangen gibst:“ Und das war noch nicht alles. „Vorsicht mit dem Pedal, schneid keine Grimassen, sing nicht beim Spielen, ändere auf keinen Fall den Fingersatz, sonst kommst du durcheinander…“, und so fort.
Ich starb fast vor Angst. Der Konzertsaal erschien mir als Löwenkäfig, eine falsche Bewegung, und ich würde zerrissen. Dann war alles ganz anders. Man empfing mich mit kräftigem Applaus, teils meiner Jugend wegen, teils weil so viele meiner Freunde […] im Saal saßen. […]
Prasselnder Beifall, das Publikum verlangte Zugaben! […] Voll Selbstvertrauen und siegestrunken schlug ich jetzt alle seine Ermahnungen in den Wind: Ich begann dieses Stück, indem ich meinen Freunden zulächelte und an alles mögliche dachte, nur nicht an das Stück. Schön war die Katastrophe da. Mein Kopf war wie leer, ich erinnerte mich an keine einzige Note. Ich wußte bloß noch, daß das Stück in As-Dur steht, und fing an, ohne zu zögern, aber mit eisigem Schrecken im Herzen, zu improvisieren. Ich brachte in Thema in As-Dur zustande, aber mit Mendelssohn hatte es nichts zu tun. […]
Aus gutem Grund erkannten die Zuhörer dieses Stück nicht, und ich erntete den gleichen Applaus wie vorher. Ich hatte Glück gehabt, traute mich aber kaum noch, eine Verbeugung zu machen und ging angstzitternd ab in Erwartung meiner Hinrichtung. Meine Verblüffung darüber, daß Professor Barth, statt mir den Kopf abzureißen, strahlend auf mich losstürzte, mir die Hände drückte und leuchtenden Auges ausrief: „Du Teufelsjunge! Du bist zwar ein Nichtsnutz, aber doch ein Genie! Nie im Leben hätte ich das fertiggebracht!“ hält noch heute an.
(Artur Rubinstein: Erinnerungen. Die frühen Jahre, Frankfurt/Main 1979, S. 56f.)
 

 

 

Schäfersee, Foto: Marc Banditt

Folge 75

 

Fichtenallee
Den Kies rausrücken

 

Unter dem sogenannten Saug-Spülverfahren zur Bodengewinnung lässt sich eine Prozedur begreifen, bei dem Sedimente mittels Rohrleitungen über weit reichende Distanzen gepumpt werden. Dieses anfangs an Küstengegenden angewandte Verfahren erlebte seine Erstaufführung in einem binnenländischen Gebiet ausgerechnet in Potsdam. Vom Herbst 1983 bis in die 1990er-Jahre hinein wurden auf diese Weise rund 150.000 Kubikmeter märkischer Sand bewegt. Die Einsparungen durch diesen technischen Kniff beliefen sich angeblich auf stolze 20.000 Fahrten mit dem LKW. Tatsächlich rollten zuerst noch Laster mit Sand aus dem benachbarten Michendorf an. Das Ganze hatte beträchtlichen Anteil daran, dass an der Nuthe ein komplett neues Stadtviertel errichtet wurde – nämlich der Schlaatz, dessen schlammiger Untergrund schon seinem slawischen Wortursprung den Boden bereitet hat. Nur mithilfe des Transportes großer Sandmengen konnte das sumpfige Fundament bebaubar gemacht werden. Sandmengen, die von einer etwas mehr als einen Kilometer entfernten, auf der anderen Seite der Nuthe befindlichen Kiesgrube stammten, am Rande des Wohngebietes Am Stern, das quasi gerade selbst erst bezugsfertig war. Und dann? Nachdem die Pumpen abgestellt worden waren, lief die Grube voll. Und die Stadt der Schlösser und Seen konnte offiziell von Letzteren einen mehr auf der Habenseite verbuchen. Obwohl eigentlich keine klassischen Schaufelbagger am Werk waren, hat sich rasch die Bezeichnung „Baggersee“ durchgesetzt. Heute, ein paar Jahrzehnte später, trägt das nicht ganz vier Hektar große Gewässer den Namen „Schäfersee“, und kaum etwas deutet hier noch auf den ursprünglichen Kunstgriff zur Entstehung hin. Ein klarer Fall von geglückter Renaturalisierung.
 

 

 

Telefonsäule am Luisenplatz, Foto: Marc Banditt

Folge 74

 

Luisenplatz
Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend …

 

Eine Ära ist zu Ende gegangen. Oder besser gesagt: vom Netz gegangen. Und die meisten unter uns haben dies kaum bemerkt. So als hätten wir keinen Empfang gehabt. Wären gerade nicht erreichbar gewesen. Worum geht es eigentlich? Es gibt in Deutschland keine funktionierenden Telefonzellen mehr! Immerhin stolze 140 Jahre währte hierzulande dieses Zeitalter, welches kursorisch eine charmante Abfolge an Begrifflichkeiten dafür schuf – vom „Fernsprechkiosk“ zum „Münzfernsprecher“, später zeitweise „Sprechzeile“ oder im Amtsdeutsch als „Telefonhäuschen“ bzw. „Fernsprechhäuschen“ geläufig, zuletzt noch unter der Bezeichnung „Telefonsäule“ oder „Telestation“ in Betrieb. Auch farblich gesehen kommt eine stolze Palette zusammen; erst Blau und Gelb, danach Rot, es folgte wieder Gelb und schließlich ein Mix aus Weiß, Grau und Magenta. Während in Berlin im Jahr 1881 zum ersten Mal der Hörer in einer öffentlichen Kabine abgenommen wurde, sollte noch ein halbes Jahrhundert vergehen, bevor dies im benachbarten Potsdam geschah. Am 19. August 1932, in Zeiten als die Erdumlaufbahn noch satellitenfrei war, eröffnete der erste Fernsprecher der Stadt, am Luisenplatz neben dem damaligen Reichspostamt. Ziehen wir dazu noch die in den vergangenen zwei Jahrzehnten vorherrschende Dominanz der Mobilfunkgeräte in Betracht (z.B. stimmte die Stadtverwaltung 2013 zu, die Anzahl der hiesigen Zellen von 35 auf 25 zu reduzieren), bleiben über den Daumen gepeilt noch 70 Jahre übrig, in denen die Stadt aktiv mit und von den Apparaturen lebte. Insbesondere zu DDR-Zeiten, als gerade mal 10 Prozent der Bevölkerung über einen privaten Telefonanschluss verfügte. Wer den Gang zur Telefonzelle unternahm, hatte meist etwas Wichtiges mitzuteilen. Fast schon ein Ort der konspirativen Kommunikation. Und ein allgemein beliebter Treffpunkt. Gleichwohl musste dieser hin und wieder als unschuldiges, wehrloses Opfer vandalistischer Wucht herhalten. Aber wer weiß, wie viele von uns als normale Menschen hineingingen und als Superhelden wieder hinauskamen. Vielleicht, ja vielleicht wird sie uns fehlen, die Telefonzelle. Dann versuchen wir es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal.
 

 

Martha-Ludwig-Platz, Foto: Marc Banditt

Folge 73


Martha-Ludwig-Platz
Wenn der Krümel erzählt


Im Schaufenster der Potsdamer Tageszeitung wurde immer die neueste Nummer ausgehängt. Da waren auf der letzten Seite der Wert der Mark, die Zahl der in Konkurs geratenen kleinen Unternehmer und die Reihe der Selbstmorde vermerkt.

 

Warum sollte ich mir nicht auch einen Bubikopf schneiden lassen, wie ihn schon viele meiner Freundinnen trugen? Doch Mutter verbot es mir. Sie behauptete, was eine „richtige Frau“ ist, die trüge einen Zopf. Da gingen unsere Ansichten über eine „richtige Frau“ auseinander. […] Als dann die Schere beim Friseur leise knirschend durch meine Zöpfe fuhr, knirschten auch meine Zähne. […] Ich hatte geträumt von einem Goldhelm, der meinen slawischen Typ verwischen sollte, und herausgekommen war eine häßliche, gerupfte Henne.

 

Überhaupt lachten wir Mädchen gern. Wenn wir in eine Schlägerei mit Angehörigen des Stahlhelms oder des Jungdeutschen Ordens verwickelt wurden, verging uns allerdings das Lachen. Dann nahmen uns die Jungen in die Mitte und bildeten einen Ring um uns. Eines der Mädchen versteckte unsere Fahne in ihrer Bluse. Um die Fahne ging es unseren Gegnern zuerst. Später lernten auch wir Mädchen bestimmte Griffe und Tritte, mit denen wir uns der Überfälle erwehren konnten.

 

Mutter kam verärgert aus der Waschküche und schimpfte: „Jetzt steht das Flittchen von nebenan schon am hellen Tag mit ihrem Reichswehrfritzen in der Haustür. Das sollte unsere Göre sein, der wollte ich schon das Schmusen abgewöhnen.“

 

Zweimal machte mich ein Parkwächter darauf aufmerksam, daß ich nur die Wege befahren dürfte, die für die Bevölkerung freigegeben waren. Die Weimarer Republik schützte die Hinterlassenschaft der Hohenzollern und achtete durch Verfügungen streng darauf, daß nicht ewa Unbefugte Wege beschritten, die bislang nur fürstlichen Beinen vorbehalten waren.

 

Vater war einverstanden. „Hier Krümel, hundert Mark. Für uns Männer einen Schnaps. Für euch Weibsen einen Likör.“ Ich strahlte. Einen Likör durften nur Erwachsene trinken. Also war ich in Vaters Augen schon erwachsen.

 

(Martha Ludwig, Das Mädchen Krümel, 4. Aufl., Berlin 1977, S. 45f., 55, 88, 105, S. 276f., 306)

 

 

 

Quelle:  Peter Bley: 150 Jahre Eisenbahn-Potsdam. Aus der Geschichte der ältesten Eisenbahn in Berlin und Preußen, Düsseldorf 1988, S. 65

Folge 72


Neustädter Havelbucht
31,9 Meilen pro Stunde!


Nachzulesen ist dieser Wert im „Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens“ für das Jahr 1856. Schienenfahrzeuge revolutionierten die menschliche Mobilität im 19. Jahrhundert, symbolisierten die bahnbrechende Dynamik der Industrialisierung, ließen die Zeit schneller und Entfernungen kürzer erscheinen und lösten – wie nicht wenige technische Innovationen – bei den zeitgenössischen Menschen vielerlei Ängste, Hoffnungen und Visionen aus. In hiesigen Gefilden ertönte im Jahr 1838 der Startschuss, als der erste Zug von Berlin nach Potsdam rollte. Nur sieben Jahre später wurde die Potsdam-Magdeburger-Eisenbahngesellschaft ins Leben gerufen, um einen maßgeblichen Abschnitt der heute viel genutzten RE 1-Linie auf den Weg zu bringen. Am 2. August 1846 fand die erste „Probefahrt“ statt, allerdings von einer provisorischen Station vom Kiewitt aus, da die komplette Strecke noch nicht fertig war. Denn es musste die Havel am Lustgarten, der Stadtkanal und die Neustädter Havelbucht überbrückt werden, mit Gitterfachwerk-Drehbrücken der Marke Borsig. Aber auch dies sollte nur weitere sechs Wochen in Anspruch nehmen, bevor drei Mal täglich die Züge zwischen Berlin und Magdeburg verkehrten. Eine Dekade später, genauer gesagt am 29. Mai 1856, verließ die „Jupiter“ um „8 Minuten nach 7 Uhr die Station Potsdam. Schon dicht an dem Bahnhofe vor der großen Havelbrücke mußte die Maschine warten, bis die Drehklappe gehörig geschlossen war“. Danach aber fuhr die Lokomotive „mit voller Geschwindigkeit weiter“ zur „nur 0,17 Meilen von Potsdam entfernten Havelbuchtbrücke … [E]rst kurz vor derselben [bemerkte, M.B.] der Maschinist, daß die Drehklappe geöffnet war“. In dem eingangs erwähnten Journal wurde minutiös rekapituliert, die Zugmaschine hätte in diesem Moment die in Preußen zulässige maximale Geschwindigkeit für Güterzüge (30,75 Meilen pro Stunde) überschritten – bevor sie gegen ein Brückenteil krachte und ins Wasser fiel. Auch erfahren wir zahlreiche wissenswerte Details zu diesem Wunderwerk der Technik, mitunter, dass nach deren Bergung aus der Havel „die Achsen, Räder, Federn, Bremse, Boden u. f. w. in noch unverletztem Zustande waren.“ Immerhin bleibt dazwischen das Schicksal der beiden an Bord befindlichen Personen nicht ganz unerwähnt, die nach ihrer Rettung aus dem Wasser „nur unbedeutend verletzt und bereits wieder hergestellt“ waren.


(Zitate aus: Das Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens in technischer Beziehung, Elfter Jahrgang (1856), Heft 2, S. 30f., 33)

 


 

Mosaik in der Lotte-Pulewka-Straße 5/7, Foto: Marc Banditt

Folge 71


Lotte-Pulewka-Straße 5/7
Völkerfreundschaft


Vor uns ein Kunstobjekt namens Völkerfreundschaft (1976). Im Kern eigentlich ein universeller und zeitloser Slogan. Ausdauernd jedoch haftet an seiner Fassade ein dialektisch-realsozialistischer Beigeschmack, der sein Haltbarkeitsdatum längst überdauert zu haben scheint. Wie an dem vorliegenden Exemplar, hinter dem sich ein spezifisches herrschaftliches Zeichensystem verbirgt. Eine Stichprobe bildsprachlicher Elemente, die in Zeiten der WBS-70-Konjunktur die bauliche Uniformierung ein (Mosaik)Stück weit aufheben und gleichzeitig eine ideologische Botschaft transportieren sollten. Darüber hinaus finden wir den Terminus im öffentlichen Raum nicht weniger ostdeutscher Städte wieder, mitunter namensgebend für Brunnen, Gebäude oder Straßen. Faktisch war das Konstrukt der Völkerfreundschaft ein zentraler Baustein für das legitimatorische Gerüst der DDR, hatte es dort bis in die Präambel der Verfassung geschafft, war eine geläufige Parole des FDJ-Vokabulars und stand Pate für die hohen Meriten, welche die Grandseigneurs des Arbeiter- und Bauernstaates an auserwählte Personen vergaben. Wir gehen noch ein Stück weiter zurück in die Geschichte und somit noch einen Schritt näher an den Ursprung des Begriffs. Josef Wissarionowitsch Stalin. Kein Geringerer als der langjährige Machthaber der Sowjetunion erweist sich als entscheidender Multiplikator der Wortschöpfung ab etwa 1935 im Rahmen der unter ihm verfolgten sogenannten Einwurzelung bolschewistischer Herrschaft. Die Völkerfreundschaft diente dabei paradoxerweise als Schlagwort zur kosmetischen Einhüllung der Machtstrukturen im kommunistischen Vielvölkerstaat. Nachweislich gab es im Laufe der Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zahlreiche Staatengebilde, die mehrere sprachlich, ethnisch oder religiös verschiedene Bevölkerungsgruppen aufweisen. In welchem Maße unter diesen freundschaftliche Beziehungen realiter zur Tagesordnung gehörten, wären tiefgründige, kritische Untersuchungen wohl wert. Vielleicht aber kehren wir in unserer Gedankenkette wieder zum Einstieg zurück und lassen nur das Gezeigte auf uns wirken.
 

 

 

Ein-Mann-Bunker im Beetzweg, Foto: Marc Banditt

Folge 70


Beetzweg
Schutz für Singles?


Mehrere Stockwerke tief, mit meterdicken Wänden versehen, die unterirdische Labyrinthe umhüllen, bestehend aus teilweise endlosen Gängen und riesigen Schutzräumen. Eine Neonröhre in der Lampe, die synchron zum Rhythmus der dumpfen Erschütterungen aufflackert. Einige Geheimnisse sind absichtlich für immer zugeschüttet, manche hätten lieber nicht wieder an das Tageslicht geraten sollen. Der eine oder andere moderne Raubritter riskiert zuweilen Leib und Leben in der Hoffnung, dort den Fund seines Lebens zu machen. Bunkeranlagen üben nach wie vor eine gewisse Faszination aus, sind sie doch steinerne Protagonisten der finalen Phase des Zweiten Weltkrieges, die geprägt war von anhaltenden Flächenbombardements und sich zerstreuenden menschlichen Schicksalen. Verstärkt ab den späten 1930er-Jahren wurden die Anlagen in vielfältigen Größen und Variationen gebaut, als ihr alleiniger Zweck Teil groß angelegter Pläne war. Ob allerdings die hier noch vorhandenen Exemplare ihr Soll wirklich erfüllten, mag bezweifelt werden. Überhaupt hinterlassen die Ein-Mann-Bunker oder Splitterschutzzellen nahe des Babelsberger Industriegebietes mehr Fragen als Antworten. Wann genau wurden sie gebaut? Von wem? Und für wen? Ob als Schutzraum für ein anliegendes Rüstungsunternehmen, als Teil einer Flugabwehranlage oder für Wachmannschaften eines Kriegsgefangenenlagers – Theorien  kursieren mehrere, stichhaltige Beweise gibt es wenige. Halten wir somit fest: Die Minibetonkolosse boten damals nur wenigen Menschen Schutz, heute aber deutlich mehr Raum für Spekulationen.

 

 

Russische Kolonie 11, Foto: Marc Banditt

Folge 69


Russische Kolonie 11
Horst und Günter, Teil 2


Horst, der jüngere der beiden, kommt 1930 zur Welt. Der Junge aus Gleiwitz muss den Verlust seiner Mutter und zweier Brüder verkraften, bevor er gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in sowjetischen Pflichtdienst gerät. 1946 erfolgt seine Ausreise und wenig später erlebt der als schriftstellerisch tätige Horst einen steilen Aufstieg: eigene Veröffentlichungen, ein erster Preis für seine Prosa. Er darf als Volontär bei der Potsdamer „Tagespost“ mitwirken. Martin Gregor-Dellin ernennt ihn zum Assistenten. 1950 erhält Horst die Zusage zur Teilnahme am ersten Jahrgang für junge Schriftsteller in Bad Saarow. Im September 1951 wird er von Bertolt Brecht in die Meisterklasse am Berliner Ensemble aufgenommen. Während des Weltjugendtreffens im Oktober 1950 begegnet er auf dem Kurfürstendamm seinem alten Bekannten Günter. Bei Kaffee und Kuchen sieht Horst zu erstem Mal eine Pistole von Nahem. Er wird von Günter gebeten, die Nummern der Panzer in Potsdam aufzuschreiben, die zum Manöver fahren. Dafür winken ihm amerikanische Dollar. Zwei Wochen darauf treffen sich beide wieder, im Café Kranzler. Horst übergibt das Telefonbuch. Die Stasi überwacht ihn und schlägt am 8. November 1951 zu. Sie durchsuchen Horsts Wohnung in Potsdams Russischer Kolonie und verhaften ihn. Er steht in einem Notizbuch. Während einer Gegenüberstellung mit Günter hört er u.a. von ihm „ … Ich habe alles gestanden.“ Am 12. April 1952 wird er vom Sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage und Antisowjethetze zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Beide haben sich nie mehr gesehen. Seine Rückkehr in die BRD erfolgt am 9. Oktober 1955. Horst stirbt am 7. Dezember 1990 in München. Am 1. September 1994 wird er rehabilitiert.

 

 

 

Gedenktafel in der Bäckerstr. 6, Foto: Marc Banditt

Folge 68


Bäckerstraße 6
Günter und Horst, Teil 1


Günter, der ältere der beiden, kommt 1926 zur Welt. Der Jugendliche aus Babelsberg muss Kriegsdienst in der Wehrmacht leisten, bevor er gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in sowjetische Gefangenschaft gerät. 1948 erfolgt seine Entlassung und wenig später erlebt der als Zeitungsjournalist tätige Günter einen steilen Aufstieg: Mitglied der FDJ und Mitarbeit im brandenburgischen Landesvorstand des FDGB. Früh schließt er sich der gegründeten National-Demokratischen Partei Deutschlands an, wird deren stellvertretender Kreisvorsitzender in Potsdam und zum Jugendreferenten der Partei berufen. 1949 ist er das jüngste Mitglied der Provisorischen Volkskammer der DDR und wird neben Erich Honecker in den Jugendausschuss der Volkskammer gewählt. Dann kommt der Bruch. Schon im Januar 1950 wird sein Ausschluss aus der NDPD und der Volkskammer beantragt. Günter geht nach West-Berlin und nimmt Kontakt zur CIA auf. Während des Weltjugendtreffens im Oktober 1950 begegnet er auf dem Kurfürstendamm seinem alten Bekannten Horst. Im Café Kranzler rühmt sich Günter damit, ein Verhältnis mit einer Sekretärin eines SED-Bezirksvorstehers gehabt zu haben und von ihr Informationen über russische Truppenbewegungen zu erfahren. Man hätte sie verhaftet. Er bittet Horst, ihm ein Telefonbuch aus Potsdam zu besorgen. Zwei Wochen darauf treffen sich beide wieder, es gibt Asbach-Uralt. Die Stasi überwacht ihn und schlägt am 2. November 1951 zu. Sie verschleppen Günter in Berlins Russischen Sektor und verhaften ihn. Sie finden sein Notizbuch. Während einer Gegenüberstellung mit Horst spricht er u.a. zu ihm „Sag alles …“. Am 16. April 1952 wird er vom Sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage und Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation zum Tode verurteilt. Beide haben sich nie mehr gesehen. Sein Gnadengesuch vom 20. Juni 1952 wird abgelehnt. Günter stirbt am 26. Juni 1952 in Moskau. Am 12. April 2001 wird er rehabilitiert.

 

 

Tafel an der Große Fischerstraße 11, Foto: Marc Banditt

Folge 67


Große Fischerstraße 11
Vom Abriss eines Bauwerks


Mauern verschwinden, wenn die Menschheit wächst. Das könnte als eine ethisch-philosophische Phrase durchgehen, wenn man sich ihr im übertragenen Sinne annähert. Es geht aber auch direkter. Im Jahr 1718 begannen die ersten Arbeiten für Palisaden- und Wallvorrichtungen an der Havelseite, die dort bis 1826 stehen blieben. Zur anderen Seite der Siedlung diente im frühen 18. Jahrhundert noch ein Wassergraben (der Vorläufer des Stadtkanals) als Barriere. Das änderte sich im Zuge der ersten Stadterweiterung mit dem Bau der 3,77 m hohen Backsteinmauer anno 1722. Doch deren Bestandsperiode dauerte nur eine Dekade. Zum obersten barocken Mauerspecht mutierte Friedrich Wilhelm I. selbst, der ab 1733 eine zweite Ausweitung des damaligen Stadtgebietes forcierte und somit Abriss und Neubau der Mauer anordnete. Quasi eine steinerne Parallelverschiebung auf dem preußischen Reißbrett. Ins Auge fällt dabei der zeitliche Gleichschritt mit Berlin, wo zwischen 1734 und 1737 im Wesentlichen die Zoll- und Akzisemauer errichtet wurde. Und da anschließend in der preußischen Hauptstadt die Mauer ebenfalls in ihrem Verlauf nochmals nachjustiert worden ist, steht heute nicht nur in Potsdam und in Berlin ein eigenes Brandenburger Tor, sondern es existierte an beiden Orten auch jeweils ein weniger repräsentatives, weniger bekanntes Vorgängermodell. Aufgrund des dynamischen Bevölkerungswachstums im 19. Jahrhundert wirkte die Existenz von Stadtmauern mehr und mehr als ein Hindernis. Dazu kam, dass diese als Fortifikationsanlagen kaum noch zeitgemäß waren. Wobei der Potsdamer Stadtwall seit Anbeginn nicht prioritär zur Verteidigung äußerer Feinde dienen sollte; und weder die habsburgischen (1760) noch die napoleonischen (1806) Truppen fanden dergestalt ein Ernst zu nehmendes Bollwerk vor. Wie schon die ursprüngliche Namensgebung von 1722 (als „Accise- und Desertations-Communication“) verrät, diente die Anlage in erster Linie dazu, erstens die Einnahmen des Herrschaftsverbandes zu sichern und zweitens die Flucht bestimmter Personenschichten aus der Stadt zu minimieren. Das klingt irgendwie nach Gemeinsamkeiten zu einem Bauwerk, das im 20. Jahrhundert Potsdam und einen Teil von Berlin trennen sollte, im übertragenen und im direkten Sinn.
 

 

 

Sophie von Schönburg-Waldenburg (Wilhelm Niederastroth, Public domain, via Wikimedia Commons)

Folge 66


Am Neuen Garten 11
Fürstin für ein (halbes) Jahr


Es ist der 7. März 1914. Aus dem im Jahr 627 v. Chr. als Epidamnos gegründeten Durrës wird die Hauptstadt eines Landes. Im Hafen läuft der neue Machthaber mit dem Schiff ein und betritt als regierender Fürst erstmals sein Territorium. Nach der vier Jahrhunderte währenden osmanischen Fremdherrschaft hatte Albanien im Ersten Balkankrieg seine Unabhängigkeit erklärt. Um die internationale Anerkennung kümmerten sich die großen europäischen Mächte, ebenso wie um die exakte Grenzziehung und schließlich um die Suche nach einem geeigneten Staatsoberhaupt, das der divergierenden Interessenlage standhalten konnte. Der in die engere Auswahl gelangte deutsche Prinz und Offizier Wilhelm zu Wied soll zunächst gezögert haben, stimmte aber am Ende zu. Angeblich auch auf Betreiben seiner Frau, die an jenem Tag im März 1914 als Fürstin nach ihm von Bord an Land ging. Sophie Helene Cecilie, eine geborene Potsdamerin aus dem Hause Schönburg-Waldenburg. Als Enkeltochter einer rumänischen Prinzessin verbrachte sie einen Teil ihrer Kindheit auf der Balkanhalbinsel und wurde dort der (gleichfalls) deutschstämmigen Königin Elisabeth bekannt. Die beiden Frauen teilten die Leidenschaft für die musischen Stunden im Leben und ab 1906 ferner familiäre Bande, denn Wilhelm zu Wied war kein Geringerer als der Neffe der Königin. Nach der Trauung im sächsischen Waldenburg ließ sich das Paar zunächst in Neuwied nieder, dann in Charlottenburg und ab 1908 in Potsdam. Vorhandene Adressbucheinträge aus jener Zeit geben die Albrechtstraße Nr. 11 (mit einem Diener und der Fernsprechnummer 1242) als Wohnsitz an. Das Domizil wirkte in jener Zeit als Anziehungspunkt musikalischer Salons, zu welchen die Dame des Hauses – selbst ausgebildete Sängerin, die kleine Opernkompositionen schrieb und mehrere Instrumente beherrschte – regelmäßig einlud. 1909 kam die gemeinsame Tochter Marie Eleonore zur Welt, 1913 der designierte Erbprinz von Albanien Karl Viktor. Das royale Abenteuer sollte allerdings nur ein halbes Jahr andauern, denn im Windschatten des Ersten Weltkrieges verließ die Familie flugs das Land am 3. September 1914. Fürstin Sophie von Albanien behielt ihren Titel offiziell noch bis zum Jahr 1925, bis dort die Republik ausgerufen wurde.
 

 

 

Evangelisch-Lutherische Christuskirche in der Behlertstr., Foto: Marc Banditt

Folge 65

 

Zwischen Eisenhartstraße und Behlertstraße

Briefwechsel mit Gott

 

„In der einen Ekke des Kirchhofes ist ein kleiner Platz mit einer schönen Mauer und Gitterthüre umschlossen; in der Mitte desselben stehet das Monument, von dauerhaftem Sandstein und von einem nicht ungeschikten Bildhauer gearbeitet. Ein wahres Quodlibet von Mythologie und Christenthum […] Saturn in beinahe kolossalischer Größe, als Bild der Zeit, stehet an dem Fußende, sitzt traurend in der Mitte; ein kleiner Knabe, mit allen Attributen des Merkurs, überreichet selbiger einen versiegelten Brief“. Es bleibt unserer Imagination nicht nur vorenthalten, uns auf Basis dieser Beschreibung aus dem Jahr 1785 die offenbar prächtig gestaltete Grabstelle vor Augen zu führen. Dem Reich des Unsichtbaren gehört schon seit langer Zeit die gesamte Friedhofsanlage an der ehemaligen Alten Kirchhofgasse an. Als solche ab 1752 errichtet, zählt sie zu den ältesten bekannten kommunalen Gottesackern. Die – wie damals üblich – außerhalb der Stadtmauern liegende Ruhefläche hinter dem Nauener Tor besaß aber drei Nachteile: Zu klein, zu sumpfig und stadtplanerisch zu kurz gedacht. Friedrich Wilhelm II. hatte angesichts des von ihm vorangetriebenen Ausbaus des Neuen Gartens samt Marmorpalais buchstäblich die Nase voll von dem Friedhof, wo die feuchte Erde für einen langsamen und geruchsintensiven Verwesungsprozess sorgte. Die Anlage wurde 1795 geschlossen und ein Jahr später der „Alte“ Friedhof geweiht. In den darauf folgenden Jahrzehnten führte das stillgelegte Areal ein Schattendasein, war verpachtet worden, zeitweise genutzt als gärtnerische Versuchsfläche, bis schließlich die Parzellierung und Neubebauung erfolgte. Natürlich zum Leidwesen der Grabanlagen und ihrer Monumente. Einige „Überlende“, wie etwa der Flötist Johann Joachim Quantz, wurden noch 1865 umgebettet. Nicht so das eingangs beschriebene Denkmal, erbaut um 1761/62 für eine gewisse Madame Dickow. Was der an sie adressierte versiegelte Brief beinhaltete? Wir werden es nie erfahren. Jedoch „Sie selber – nämlich die weinende Figur – hat schon ein Blatt in der Hand, worauf folgendes sehr deutlich zu lesen ist: Golgata, am allgemeinen Erlösungstage. Auf diesen meinen Sola Wechselbrief, dessen Valuta ich an Frömmigkeit und ehelicher Treue erhalten, zahlet Dir, sogleich nach Deinem Absterben, die ewige Seligkeit, Dein Heiland. Jesus Christus.“

 

(Zitate aus: Berlinische Monatsschrift, Bd. 5, 1785, 5. Stück [Mai], S. 484f.)

 

 

 

Tempo Schallplattenwerk bis 1989 (Quelle: https.lale-andersen.dewp-contentuploads201809Tempo-2a.jpg)

Folge 64


Tuchmacherstraße 45
Der Groove war ihr Beruf
 

Vorsichtig, gaaanz vorsichtig wird das Heiligtum in die Hand genommen. Natürlich nur von einem Auserwählten. Die getreuen Anhänger sind zumindest würdig, einen kurzen, erhabenen Blick auf das kostbare Stück zu werfen. Auch wenn sich die körperliche Anspannung buchstäblich bis in die Fingerspitzen transformiert, bedarf es nun unbedingt einer ruhigen Hand. Jegliche Kratzer verursachende Wackler und Ausrutscher könnten unverzeihliche Folgen nach sich ziehen. Doch gekonnt geräuschlos schnippt die Nadel auf das rotierende Runde, ein kurzes, Glück verheißendes Knistern erklingt aus dem Lautsprecher, bevor die ersten Akkorde den Übergang in eine andere Dimension intonieren. --- Ja, schon gut. Dieses mystische Zeremoniell umrahmte bestimmt nicht jede aufgelegte Schallplatte in der DDR. Gleichwohl: Ob nun Deep Purple, die Puhdys oder Herricht & Preil, eins hatten doch alle Platten der Republik gemeinsam. Ausnahmslos wurden sie im Vinylwerk in Babelsberg gepresst. Amiga, Litera, Eterna, Nova, Aurora, Schola. An jenem Standort, wohin Otto Stahmann 1938 sein Tempo Schallplattenwerk verlegt hatte, das dann 1946 verstaatlicht wurde. Aus der dort zunächst produzierenden Lied der Zeit GmbH ging 1954 der VEB Deutsche Schallplatten Berlin hervor. Bis 1989 summierte sich dessen Verkaufsbilanz auf stolze 97 Mio. Exemplare. Und welches künstlerische Fabrikat rangierte ganz oben in den ewigen sozialistischen Charts? Natürlich „Weihnachten in Familie“ – Musik für die heiligste Zeit des Jahres.
 

Wegweiser in Nattwerder, Foto: Marc Banditt

Folge 63

 

Feldweg (Nattwerder)
Hopp Schwiiz
 


Patriziat, Patronage, Nepotismus. Fein gesponnene Netze an Allianzen und Klientelbeziehungen. Oligarchische Abhängigkeitsverhältnisse und machiavellistisches Konkurrenzgebaren. Derartige Ränkespiele sind auch im frühneuzeitlichen Bern zu beobachten, das aus dem Dreißigjährigen Krieg als souveräner Stadtstaat hervorging. Europäische Stadtrepubliken in der Vormoderne projizierten politisch-herrschaftliche Schachbretter, auf denen Familien und Gruppierungen ihre menschlichen Spielfiguren in Stellung brachten und zuweilen opferten, um Macht und Einfluss dauerhaft sicherzustellen. Und dann steht auf einmal eine brandenburgische Gesandtschaft in der Tür der heutigen Hauptstadt der Schweiz. Es ist das Jahr 1683 nach Christi Geburt. Das märkische Kurfürstentum kämpft seit dem epochalen Krieg gegen die Menschenleere. Friedrich Wilhelm klopft bei seinen reformierten Glaubensbrüdern an, lockt mit zahlreichen Privilegien. Ein Name als Programm: Albrecht Bauernkönig reist 1684 eigens zur Inspektion in das Golmer Luch und lässt sich überzeugen. Im Jahr darauf besteigen 14 Familien die brandenburgischen Schiffe, die sie aus der alten in die neue Heimat bringen sollen. Rund sieben Wochen dauert die Gratisreise, auf der ein Siedler verstirbt, ein neuer geboren wird und ein weiterer die Flucht ergreift. Als humanes Startkapital erreichen schließlich 101 Menschen die „nasse Insel“. Nicht nur der Grundriss des Kolonistendorfes ist bis heute kaum verändert. Die 1690 geweihte Kirche gilt als das älteste Gotteshaus der brandenburgischen Landeshauptstadt. Anders als damals hat Potsdam in puncto Bevölkerungszahlen Bern mittlerweile längst hinter sich gelassen. Natürlich auch weil ein gehöriger Teil der alten Schweizer Kolonisten feste Wurzeln im sumpfig-märkischen Boden geschlagen hat.

 

 

Buchcover

Folge 62


Immenseestraße 7
Ich denke oft an …


… Hugo Hartung, wenn ich den Namen Piroschka lese oder höre. Logisch. Die Suggestivkraft des Kassenschlagers aus den Fünfziger Jahren mit der bezaubernden Liselotte Pulver in der Hauptrolle erweist sich als langlebig. Vergleichsweise kurz war dagegen der Lebensabschnitt, den der Schriftsteller am westlichen Rand von Potsdam zubrachte. Rund drei Jahre (von 1947 bis 1950) weist seine bewegte Biografie dahingehend auf. Davor hatte sich der promovierte Literat als Schauspieler, Schriftsteller und Hörspielautor verdingt, bis die Nazis ein Schreibverbot über ihn verhängten. Einige Jahre nach seiner 1937 beantragten Aufnahme in die NSDAP ging Hartung nach Breslau; zunächst als Dramaturg, um 1945 dann zwangsweise als einfacher Soldat das echte Drama um den zur Festung erklärten Flecken Erde hautnah zu erleben. Neustadt an der Orla war sein erster Wohnort nach dem Krieg. Es folgten wie erwähnt Potsdam, ein Jahrzehnt in West-Berlin und nochmals zwölf Jahre in München, wo er seinen – schriftstellerisch sehr aktiven – Lebensabend verbrachte. Dass die Zeit an der Havel dennoch einen gewissen Eindruck hinterlassen hat, demonstriert Hartungs posthum veröffentlichter Roman „Die Potsdamerin“. Eine Geschichte über ein junges, spontanes Liebesglück, über welches sich der dunkle Schatten des Krieges legt. Obgleich die Niederschrift des Manuskripts ab 1961 erfolgte, blieb das Werk unvollendet. Mutmaßungen über ein mögliches Ende offenbaren die Erklärungen im Nachwort, die neunzehn vorangehenden Kapitel mitunter einen feinen und lebendigen Spürsinn für das Lokalkolorit des gesellschaftlichen Miteinanders. Kurze Kostprobe: „Wissen Sie nicht, was Potsdam für ein Klatschnest ist! Wenn ich hier im Finstern mit einem fremden Mann gesehen werde, ist das morgen rum bis nach Bornim und Bornstedt.“ Wer weitere Beweise benötigt, greift am besten selbst zum Buch.

 

(Zitat: Hugo Hartung: Die Potsdamerin, München 1979, S. 22)

 

 

Themistokles im Neuen Garten, Foto: Marc Banditt

Folge 61


Tizianstraße 1
Auf der Welle der Geschichte
 

Kühn und entschlossen steht er dort. Das Wasser war das Element seines Schaffens, auf dem sein Nimbus beruht. Seit zweieinhalb tausend Jahren. Während der Perserkriege im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wusste Themistokles seine Mitbürger vom Ausbau der Flotte und des Hafens zu überzeugen. Nach den Kämpfen bei den Thermopylen und angesichts der auf dem Festland voranrückenden Armee des persischen Großkönigs bestand in den Augen des Feldherrn nur eine reale Option: die Evakuierung Athens. Die anschließenden Zerstörungen sämtlicher Heiligtümer auf dem Akropolisberg waren ein hoher zu zahlender Preis. Die siegreiche epochale Seeschlacht bei Salamis im Jahr 480 v. Chr., Athens maritime Vormachtstellung in den darauf folgenden Dekaden und die Weiterentwicklung der attischen Demokratie ließen dagegen den großen Herodot zu dem Schluss kommen, Themistokles gelangte zeitlebens  „in den Ruf, der bei Weitem klügste Mann unter den Griechen zu sein, und zwar überall in Griechenland“ (Herodot, Historien, VIII, 124,1). In der Weltgeschichte hat der antike Feldherr somit einen festen Platz, an der „Badestelle“ des Heiligen Sees war dieser hingegen weniger solide. Warum? Seine Ankunft in Potsdam datiert zurück auf das Jahr 1791; der Architekt Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff (1736–1800) hatte die Büste kurz zuvor nach Ausgrabungen im italienischen Ostia für König Friedrich Wilhelm II. erstanden. Noch vor der Aufstellung wurde jedoch das Kopfteil durch ein unbekanntes Stück ersetzt. 1830 erfolgte dann der Abtransport der Herme in ein Museum, und dort wieder die Nachbildung des Hauptes in persona des athenischen Staatsmannes. Wie so oft gilt auch in diesem Fall das Jahr 1945 als Chiffre des ungeklärten Verschwindens. Seit 1993 steht wieder eine Kopie am alten Standort. Von dort erstreckt sich der Blick des großen, ehrwürdigen Themistokles über das Ufer hinweg auf das weite, offene Gewässer.
 

 

 

Ringerkolonnade, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 60


Stadtschloss Potsdam
Ach, wie gut, dass niemand weiß


Metropolis, Die Feuerzangbowle, Der blaue Engel, Der Untertan, Spur der Steine, Die Legende von Paul und Paula, Der Pianist, Sonnenallee, Die Welle, Bridge of Spies, Das Leben der Anderen, Homeland, Gute Zeiten Schlechte Zeiten, SOKO Potsdam, Babylon Berlin … Die Auswahl an Film- und TV-Produktionen, mit denen die brandenburgische Landeshauptstadt seit über einhundert Jahren als Filmstadt firmiert und punktet, ist bereits erheblich lang und nimmt weiter stetig zu. Wenngleich der überwiegende Teil der Werke in den Babelsberger Filmstudios gedreht wurde bzw. wird, durfte sich der öffentliche Raum der Stadt hin und wieder selbst als Kulisse authentisch in Szene setzen. In Anbetracht der dynamischen Bau- und Bevölkerungsentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten kann natürlich die eine oder andere Kameraeinstellung von damals den Zuschauer:innen (unabsichtlich) Ansichten von Potsdam vor Augen führen, die in ihrer früheren Gestalt nicht mehr existent sind. Derart erlaubt ein – zugegeben kurzer – Ausschnitt aus einer Märchenverfilmung des Jahres 1940 beispielsweise einen Blick auf die alte Havelkolonnade am Stadtschloss. Zusammen mit der Ringerkolonnade wirkte diese als trennendes Element für den Lustgarten, wobei der bauliche Eingriff auf die Jahre 1745/46 datiert, als die Residenz für Friedrich II. auf Vordermann gebracht worden war. Die durch die Kolonnaden geschaffene Raumordnung zur Gartenseite hin blieb nahezu 200 Jahre lang intakt bis zu den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg. Während nun die Ringerkolonnade teilweise erhalten geblieben und an ihren Standort zurückgekehrt ist, haben die Kriegsschäden die Havelkolonnade komplett in Mitleidenschaft gezogen. Um welchen Film es sich letztlich handelt, der davon ein Stück in bewegten Bildern zurückholt, lässt sich derweil leicht aus dem Titel dieser Ausgabe ablesen.

 

Link zum Film

 

(Für Ungeduldige: Min. 16:11, 42:14)

 

Tournachon, Gaspard-Félix: Friederike O'Connell (1823-1885)

Ausgabe 59


Charlottenstraße 46
Von Potsdam nach Paris


Ein Name wie ein Kunstwerk: Frédérique Émilie Auguste O’Connell. Die Geburtsvariante (Friederike Miethe) war dagegen vergleichsweise hölzern intoniert. Das war 1822. Zwei Jahre zuvor ließ sich Johann Friedrich Miethe in Potsdam nieder. Jener Miethe, dessen Vater als Gründer der Halloren Schokoladenfabrik gilt und der selbst die Herstellung des beliebten Genussmittels als Massenware industrialisierte – mithilfe von Dampfmaschinen. Als ältestes von neun Kindern verlor Friederike ihren Vater im Alter von zehn Jahren. Während nun der Onkel die Potsdamer Firma übernahm, zog die Mutter mit den Kindern nach Berlin. Schon zuvor zeigten sich die Fertigkeiten der jungen Dame beim Umgang mit Pinsel und Radiernadel. Ihre ersten Gehversuche auf dem Gebiet gipfeln schließlich im Jahr 1842, als sie auf einer Berliner Kunstausstellung ein Gemälde präsentieren durfte. Nach weiteren Lehrjahren in Brüssel – sie gerät dort unter die Fittiche von Louis Gallait und studiert die flämischen Meister – wird ab 1853 Paris ihr neuer Lebensmittelpunkt. Zu diesem Zeitpunkt ist sie längst mit dem irischen Edelmann Adolphe O’Connell verheiratet und kann diverse Expositionen ihrer Werke in den Hauptstädten Frankreichs, Belgiens und Preußens vorweisen. Als Höhepunkt ihres damaligen Ansehens lässt sich ihre Darbietung auf der Weltausstellung in Paris 1855 anführen. An der Seine unterhält Mme O’Connell einen musisch-literarischen Salon und gibt jungen Mädchen Kunstunterricht. Die französische Staatsbürgerschaft nimmt sie hingegen nicht an. Darin liegt, angesichts des ausbrechenden Konfliktes zwischen Deutschland und Frankreich zu Beginn der 1870er-Jahre, ein möglicher Grund für das schwindende Interesse an Ihren Arbeiten. Frédérique Émilie Auguste O’Connell verstirbt letztlich 1885 in einem psychiatrischen Pflegeheim nahe Paris. Das Wohnhaus ihrer frühen Potsdamer Kindheit ist seit 1945 nicht mehr existent.   

 

 

Kiezstraße 10, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 58


Kiezstraße 10
Zirkel und Winkel an der Havel


Wenn von Freimaurern die Rede ist, öffnet sich unentwegt eine gedankliche Pforte, hinter der sich eine mystisch-geheimnisvolle, arkane Sphäre enthüllt. Eine Sphäre hinter den Kulissen des Offensichtlichen, von der aus unsichtbare Hände vermeintlich die Fäden des Weltgeschehens stricken und miteinander verweben. Realiter waren die Logen ein Ort paradoxer Gegensätze, in denen die dort praktizierte Geselligkeit ein exklusives Privileg darstellte, intern jedoch strenge Ordnungshierarchien unter den als gleichberechtigt propagierten Brüdern vorherrschten. Trotzdem – oder gerade deswegen – erfreute sich diese Form der Vergesellschaftung ab dem 18. Jahrhundert einer hohen Beliebtheit und breitete sich ausgehend von England über den europäischen Kontinent aus – und weit darüber hinaus.  Eine der ersten nachweisbar dauerhaften Potsdamer Gründungen erfolgte am 13. Mai 1768. Auf Initiative von Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf und protegiert von Friedrich II., der zeitlebens den Geheimbünden verbunden blieb, wurde die Minerva ins Leben gerufen, zugleich die älteste der sieben Gründungslogen der „Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland“.  Während man in den ersten Jahrzehnten die rituellen Treffen in einem Lokal nahe des Nauener Tors abhielt, erwarb der Zirkel 1830 das Haus in der alten Kiezstraße, wo dieser mehr als ein Jahrhundert lang aktiv blieb. Unvereinbar mit dem Weltbild der Nationalsozialisten kam es 1935 zur Auflösung sämtlicher Freimaurervereinigungen in Deutschland. Das Verbot hielt auch auf dem Boden der ehemaligen DDR an, sodass die Minerva 1968 in Westberlin ihre Tätigkeit wieder aufnahm. Versuche, auf juristischem Wege den von Ludwig Persius 1844/45 umgestalteten Logensitz nach 1990 wieder zurückzuerlangen, waren nicht von Erfolg gekrönt.

 

 

 

Gedenktafel für Julius Lange, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 57


Brandenburger Straße 29
Der Fleischer und die Fürstin


Was verbindet einen pensionierten Potsdamer Fleischermeister aus dem 19. Jahrhundert mit Brandenburgs First Lady aus dem Hochmittalter? Nun, die Antworten führen über einen Umweg nach Michendorf direkt auf den Broadway. Und wie genau? Im September 1880 hob ein Knecht beim Pflügen des Ackers versehentlich einen Münzschatz aus dem Boden, warf diesen jedoch absichtlich wieder zurück in die Furchen in der Annahme, der Fund möge wertlos sein. Zum Glück war die zum Unkraut Einsammeln bestellte Dienstmagd hinter ihm deutlich aufgeweckter und steckte einige Exemplare davon in ihre Taschen, um sie der Gutsherrin zu präsentieren. Der sogenannte Michendorfer Münzfund machte im Nachhinein nicht allein angesichts der Masse an gefundenen Objekten – 1.797 an der Zahl – Schlagzeilen, sondern vielmehr aufgrund seines historischen Werts. Denn das Alter der Fundstücke datiert auf die Zeitspanne von 1140 bis 1184, zu Zeiten, als die Prägung von Münzen einen noch höheren machtpolitischen Stellenwert besaß. Auf dem metallenen Bargeld abgebildet waren Albrecht der Bär, Pribislaw-Heinrich und dessen Gemahlin Petrissa. Diese soll beim Übergang der Herrschaft vom letzten Hevellerfürsten auf den Askanier eine durchaus wichtige Rolle gespielt haben, indem sie den Tod ihres Gatten im Jahr 1150 zunächst für einige Tage geheim hielt, bis Albrecht auf der Brandenburg eintraf und die Herrschaft übernahm. Die Slawenfürstin blieb derweil über Jahrhunderte hinweg eine Sagengestalt, erst der Fund von 1880 gilt als solider Nachweis für ihre reale Existenz. Gewichtigen Anteil daran hatte Julius Gustav Lange. Geboren im Jahre 1815 hatte er 1842 die in der Brandenburger Straße befindliche Fleischerei von seinem Vater übernommen und offenbar so rentabel geführt, sodass der Verkauf des Betriebes 1870 seinen wohlhabenden Ruhestand ermöglichte. Fortan widmete sich Lange noch intensiver der Numismatik und der Potsdamer Lokalgeschichte. Als umtriebiger Sammler, Referent und Publizist hatte er sich einen Namen gemacht, den die Michendorfer Gutsherrin 1880 zu kontaktieren wusste. Mit Erfolg.

 

 

 

Heinrich-Mann-Allee 103, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 56


Heinrich-Mann-Allee 103
Zu Asche und Staub


Mit zuverlässiger Regelmäßigkeit sind aus der Presse Meldungen entnehmbar hinsichtlich auftretender Fort- oder Rückschritte zu einem großen Bauprojekt in der Breiten Straße, das sich – Stand jetzt – noch mit einem Gewand verhüllt. Im Heilig-Geist-Park erinnert eine hochaufragende Stahlkonstruktion seit rund 25 Jahren an ein früher stehendes Turmgebäude. Am Neuendorfer Anger dient eine markierte Umrandung auf der Rasenfläche als Andeutung eines ehemals existierenden Bauwerks. Auf der Heinrich-Mann-Allee ist es dagegen ungleich schwieriger, einen vergleichbar hinreichenden Hinweis zu erkennen. Was verbindet diese Standorte? Sie teilen insofern eine gemeinsame Historie, als ein sich dort befindliches Gotteshaus während der DDR-Zeit gesprengt respektive abgerissen wurde. Wobei die zuletzt genannte Stelle damit kaum noch assoziiert wird. An der Straßenecke sichtbar ist zuweilen das ehemalige Vorhaus des früheren Wilhelmstifts, eine 1865 ins Leben gerufene Erziehungs- und Pflegeanstalt für beeinträchtigte Kinder. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte die mehrfach umbenannte Einrichtung diverse bauliche Erweiterungsphasen, in der auch die Errichtung eines Gotteshauses (1913/15) fällt. Der kreuzförmige Bau gilt als einzige Potsdamer Jugendstilkirche und ist bis in die 1960er-Jahre hinein genutzt worden. Anders als die Garnisonkirche, die Heilig-Geist-Kirche und die Bethlehemkirche blieb die sogenannte Kirche der Landesanstalt von Kriegsschäden verschont. Dennoch erfolgte 1985 ihre Demontage, als letzte zerstörte Potsdamer Kirche vor der Wende.

 

 

Gedenkplakette für Albrecht von Gräfe, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 55


Hans-Thoma-Straße 11
Wenn der Apfel weit vom Stamm fällt


Als Begründer der modernen Augenheilkunde, ordentlicher Professor, königlich preußischer Geheimer Medizinalrat, Initiator der Deutschen ophthalmologischen Gesellschaft, Mitglied der Leopoldina oder auch als Schöpfer der ersten augenärztlichen Fachzeitschrift wies Albrecht von Graefes Visitenkarte kaum freie Stellen auf. Erst recht, wenn man bedenkt, dass sein Leben nur 42 Jahre andauerte. Sein Renommee bildet sich bis heute in vielerlei Erscheinungsformen ab, mitunter in der brandenburgischen Landeshauptstadt, wenngleich diese für ihn biografisch gesehen keine große Rolle gespielt hat. Etwas mehr trifft dies hingegen auf seinen 1868 geborenen Sohn Karl Albrecht zu, der im Laufe seiner militärischen Laufbahn mehrfach in Potsdam untergebracht war sowie dort zeitweilig einen festen Wohnsitz (1897 bis 1899 in der ehemaligen Neuen Königsstraße) hatte. Der vaterlos aufwachsende Filius blieb ebenfalls keine unbekannte Persönlichkeit. Für die beginnenden 1920er-Jahre ist er ohne Weiteres einordbar in die erste Riege der Führungsfiguren der extremen Rechten in Deutschland. Nach seinem Bruch mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), an deren Gründung er im November 1918 maßgeblich beteiligt gewesen war, durchlief der überzeugte Antisemit anschließend die Leitungsposten mehrerer völkisch-nationalistisch gesinnter Splitterparteien. 1923 stand er beim fehlgeschlagenen Staatsstreich in München noch in der ersten Reihe der Putschisten. Später gestaltete sich das Verhältnis zwischen von Graefe und Hitler als zunehmend ambivalent. Sein Einflussverlust zementierte sich im Zuge der Reichstagswahlen von 1928, als die von ihm angeführte Deutschvölkische Freiheitsbewegung kein einziges Mandat gewann. Zurückgezogen verstarb Karl Albrecht von Graefe auf seinem mecklenburgischen Gut im April 1933.

 

 

 

Konrad-Wolf-Allee 59, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 54


Konrad-Wolf-Allee 59
Wie im Film


Man stelle sich einen gemütlichen Spaziergang durch ein Wohngebiet vor. Der Untergrund erscheint dabei als perforierter Filmstreifen, der Weg wird gesäumt von kleinen komödiantischen Plastiken und keramischen Karikaturen, die ebenso wie ein zentral platzierter, begehbarer Brunnen Anekdoten aus der Kinogeschichte präsentieren. Weder der Trubel vom Freigelände der Kindertagesstätte „Alfons Zitterbacke“ noch der überhöhte musikalische Geräuschpegel aus dem gegenüberliegenden Jugendclub „Kuhle Wampe“ können uns aus der Ruhe bringen, denn wir steuern geradewegs das moderne Speiselokal „Blauer Engel“ an, dessen kleine Kinobar im Nebenraum ein längeres Verweilen dort verspricht … Das Pult an Ideen zum gestalterischen Konzept erwog einen hohen Grad an praktischer Umsetzung des Prinzips der kurzen Wege gepaart mit einer kulturell ansprechenden Identifikationsatmosphäre. Die im Jahr 1988 kursierenden Gedankenspiele in den Köpfen des Rats des Bezirks Potsdam für den bezugsfertigen Wohnkomplex „Drewitz“ kamen aber nur noch bedingt zur Umsetzung. Für eines der letzten Neubaugebiete der DDR wurden zumindest noch die Straßennamen beschlossen, welche auf dem Stadtplan ein gebündeltes Who is Who aus Ufa- und DEFA-Zeiten projizieren. Immerhin sind es in der Summe mehr derartige Benennungen als im gesamten Stadtteil Babelsberg. Mit der 2002 vollzogenen Namensänderung des Bahnhofs „Potsdam-Drewitz“ (in „Potsdam Medienstadt Babelsberg“) rückte das Viertel zumindest gedanklich ein Stück näher an das filmschaffende Gelände weiter nördlich heran. Und obwohl seit mehreren Jahren die Verwandlung von Drewitz in eine emissionsfreie Gartenstadt angestrebt wird, sind augenblicklich einige cineastische Codes nicht zu übersehen.

 

 

 

Panzersockel in der Kirschallee/Pappelallee, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 53


Ecke Pappelallee / Kirschallee
Think Tank


Mit der Eröffnung der Karl-Foerster-Schule im Jahr 1999 wurde sichtbar ein wichtiger infrastruktureller Baustein für das neu entstehende Wohnviertel entlang der Kirschallee geschaffen. Ab dem ausgehenden Nachwendejahrzehnt verzeichnete das Bornstedter Feld eine enorme Aufwertung – rund um das Gelände der blühenden Bundesgartenschau. Und mittendrin ein sowjetischer Panzer. Es ist natürlich müßig, darüber  zu spekulieren, welche tagtäglichen Reaktionen ein in nächster Nähe von dem Schulgebäude entfernt stehender T-34 bei den Kindern ausgelöst hätte. Ein in Stein gemeißeltes Symbol der Bedrohung? Ein willkommenes Objekt zur Erprobung der eigenen Kletterfähigkeiten? Oder ein Opfer präpubertärer Malkunst? Wer kann das schon wissen. Zunächst ein paar Fakten: Das in Gedenken an den 30. Jahrestag der Befreiung 1975 aufgestellte Panzerdenkmal ist 1997 – also zwei Jahre vor Schulöffnung – entfernt worden. Es stand am Eingang des ehemaligen Militärstädtchens Nr. 2, eines der abgeriegelten Areale innerhalb der Stadt, die die sowjetische Besatzungsmacht für sich beanspruchte. Oftmals an Stellen, wo sich bereits zuvor errichtete Militärbauten und -komplexe befanden. Rund ein halbes Jahrhundert lang war Potsdam eine Garnison unter dem Roten Stern. Für einen Teil der heutigen Bevölkerung ist das erzählte, für den anderen Teil erlebte Geschichte. Dennoch sind buchstäblich nur Bruchstücke von dem greifbar, was sich besonders hinter den Stacheldrahtzäunen abgespielt hat. Auf alten Stadtplänen sind die Flächen der mehr als zwei Dutzend lokalen Militärareale mal grau schraffiert, mal komplett weiß gehalten. Als wären sie vergessen oder ausradiert worden. Geblieben vom Kampffahrzeug auf Ketten ist lediglich ein Teil des Sockels. Wer will das noch wissen?

 

 

Gedenktafel in der Spitzweggasse 2A, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 52


Spitzweggasse 2A
Wohnhaft


Am 16. Januar 1943 wurden aus der Villa die letzten Bewohner:innen mit einem LKW abtransportiert. Obwohl „Bewohner“ hierbei in einem hochgradig euphemistischen Sinn verstanden werden muss, denn weder zogen diese Menschen freiwillig in die Unterkunft ein noch hatten sie die anschließende Zugfahrt in den verschlossenen Waggons Richtung Rigaer Ghetto selbst gebucht. Was sich in den Jahren zuvor innerhalb der Mauern genau abgespielt hat, haben die Opfer in ihre unbekannten Gräber mitgenommen oder die Täter schweigend für sich behalten. Somit füllt sich der leere Raum des Erinnerns nur durch nüchterne Zahlen und Daten. Vormals Eigentümer des nahe an der Babelsberger Sternwarte befindlichen Anwesens mit dem kleinen Park war der jüdische Arzt Dr. Karl Heidmann, bis ihn die mit perfider Gründlichkeit betriebene Ausgrenzungspolitik des NS-Staates in die Emigration zwang. Das zunächst zwangsverwaltete Grundstück wurde im April 1940 von der Reichsvereinigung der Juden – eine Zwangsgesellschaft unter Kontrolle der Gestapo und des Reichssicherheitshauptamtes – angemietet, um dort ein jüdisches Siechen- und Altenheim zu eröffnen. In Wahrheit war dies ein Sammellager für kranke und alte Juden vor ihrer geplanten Deportation in die braunen Vernichtungslager. Anschließend richteten die selbsternannten Richter in SS-Roben dort eine Dienststelle ein. Nach Kriegsende vegetierte die Villa schließlich selbst vor sich hin, um wegen Baufälligkeit in den 1970er-Jahren endgültig abgerissen zu werden. Es verging abermals viel Zeit, bevor eine Schülerinitiative das Haus mitsamt seiner dunklen Vergangenheit vor dem Vergessen bewahrte; der unscheinbar wirkende Gedenkstein ist am 27. Januar 1998 enthüllt worden, am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts und fast exakt 55 Jahre nach dem geplanten, finalen Abtransport jüdischen Lebens aus Potsdam.

 

 

 

Gedenkplakette für Dr. Ludwig Wiese, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 51

 

Eisenhartstraße 8
Ein Gentrifizierer im Gründerzeitalter


Die gemeine Potsdamerin und der gemeine Potsdamer mögen hin und wieder die Augen verdrehen und den Kopf schütteln, wenn zu Ortsunkundigkeit neigende Berichterstatter die brandenburgische Landeshauptstadt als Stadtteil von Berlin verbriefen. Die nonchalante Eingemeindung ist sicherlich zurückzuführen auf die den eng gewachsenen Verflechtungen beider Städte seit mehr als drei Jahrhunderten, die sich beharrlich über alle politische Zäsuren hinweggesetzt haben – mit all ihren bis heute spürbaren positiven und negativen Nebeneffekten. Insbesondere Berlins metropolitane Anziehungskraft und Potsdams Ausstrahlung als deutsches Versailles kommen nicht wenigen Menschen im wahrsten Sinne des Wortes teuer zu stehen, in Anbetracht des sich verändernden sozialen Querschnitts und daraus folgenden Implikationen für den lokalen Immobilienmarkt. Warum das so ist, brachte schon Dr. Ludwig Adolf Wiese in seinen Lebenserinnerungen prägnant auf den Punkt. Wiese war Akademiker, Beamter und seit 1875 Wahlpotsdamer. Es ist fast schon ein zeitloses Statement von ihm: „Nach meinem Ausscheiden aus dem Amt nicht in Berlin zu bleiben war längst mein Entschluß. Aus der wachsenden Unruhe der Reichshauptstadt und nach einem langen vielbeschäftigten Leben verlangte mich, was mir noch von Zeit beschieden sein möchte, an einem stilleren Orte mit freierem Genuß der Natur zuzubringen. Wir wählten Potsdam und haben nie Ursache gehabt, es zu bereuen: Die Schönheit der Naturumgebung, in der wir hier leben, ist mir eine tägliche Erquickung, und die Nähe Berlins macht es uns möglich, nicht nur persönliche Verbindungen mit Verwandten und Freunden zu erhalten, sondern auch an der reichen Nahrung, die es namentlich dem Kunstsinn darbietet, bisweilen teilzunehmen. Der Besitz eines eigenen Hauses in der Nähe eines königlichen großen von der Havel begrenzten Parks erhöht uns das dankbare Gefühl des Wohlseins in der Altersruhe: hoc erat in votis!“

 

Zitiert nach: Lebenserinnerungen und Amtserfahrungen von D. L. Wiese, Zweiter Band, Berlin 1886, S. 124

 

 

Lindenpark, Stahnsdorfer Straße 76, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 50

 

Stahnsdorfer Straße 76
Ein Tanz durch die Geschichte


Alles begann mit der Eröffnung eines Wäschereibetriebs im Neubabelsberg der Jahrhundertwende. Bis heute aber hat das charmante und liebevoll vom beginnenden Waldstreifen eingesäumte Gebäude so oft sein Antlitz – sowohl von Außen als auch von Innen – gewechselt, dass es ganz gewiss in der ersten Liga der steinernen Zeugen der Potsdamer Zeitgeschichte mitspielt. Aus der Reinigungsanstalt wurde bald eine beliebte Ausflugsgaststätte und im Zuge der reüssierenden Universum Film Aktiengesellschaft begann die Nutzung der Lokalität als Filmstudio, Atelier und Premierenkino. Als endgültig die letzte Klappe großdeutscher Eroberungsfantasien gefallen war, ließ sich dort für eine kurze Zeitspanne die sowjetische Kommandantur nieder. Für das Volk hatte das „Tanz- und Unterhaltungszentrum“ ab den 1960er-Jahren wieder seine Pforten geöffnet. Bei den Aufführungen in dem staatlich geleiteten Kulturhaus gab nicht selten die SED-Kreisleitung den Ton an, bevor die Räumlichkeiten aufgrund ihrer maroden Verfassung (ausgerechnet) im Jahr 1968 schließen und neu instand gesetzt werden mussten. Disco und Fasching gehörten mit zu den gefragtesten Veranstaltungsformaten im 1971 wiedereröffneten Jugendklubhaus, als der realsozialistisch verschönerte Saal noch Fenster besaß. Schwarze Wände, alternative Darbietungen und ein zunehmend nicht nur optisch anders auftretendes Publikum ab Mitte der 1980er-Jahre ließen (zumindest im Nachhinein) erahnen, dass auf die kulturelle Wende eine politische folgen sollte. Die Aufbruchstimmung der 90er, als so manche Band dort ihr Stelldichein gab, die heute problemlos ganze Hallen und Stadien füllt, fand spätestens 2008 ihr Ende, als der betreibende Verein Insolvenz anmelden musste. Nur zwei Jahre später verschwand mit dem „Bus“ auch ein Wahrzeichen des jüngeren Potsdamer Kulturlebens, an das sich alle älteren Semester gerne erinnern. Relativ zügig hat sich jedoch ein neuer Träger für das Haus gefunden und wir können nach wir vor beschwingt feststellen: Der Lindenpark lebt!

 

 

 

Gedenktafel Benkertstr. 22, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 49

 

Benkertstraße 22
Für eine Handvoll Schafe

 

Das große Schafsterben von 1736 ist ein Ereignis, das bisher keinen großen Einschlag im kollektiven lokalen Geschichtsgedächtnis hinterlassen hat. Aus Sicht des damaliges Amtsrates Friedrich Wilhelm Plümicke ließe sich dieses strenge Urteil sicherlich anfechten, schließlich war der Filius des Bürgermeisters ein Leidtragender des sich ereigneten Fiaskos. Und zwar anscheinend in einem solchen Maße, dass König Friedrich Wilhelm I. gewisses Mitleid mit diesem empfunden haben muss. Man bedenke in diesem Zusammenhang die häufig tradierten Charakterzüge des Soldatenkönigs, der nicht gerade für seine Zimperlichkeit bekannt geworden ist. Vielleicht zeigte sich aufseiten des bereits in die Jahre gekommenen Monarchen auch eine Spur von Altersmilde. Denn als Entschädigung schenkte Friedrich Wilhelm im Jahr 1740 dem unglücklichen Plümicke ein Haus in einem – heute würde man vielleicht sagen – Neubauviertel nahe des Stadtgebietes. Jenes Quartier, dessen Boden vorher eigens entsumpft worden war, zählte nach seiner Fertigstellung nicht weniger als 134 Gebäude mit rotem Ziegel und weißen Portalen. Heute gilt das im Zuge der zweiten barocken Stadterweiterung errichtete Holländische Viertel als ein beliebter Hotspot für unter anderem aufwendige Filmaufnahmen, schaulustige Touristen oder für den einen oder anderen wohlverdienten Müßiggang. Und es ist das europaweit einzige geschlossene Stadtviertel im holländischen Baustil – außerhalb der Niederlande natürlich. Nicht auszuschließen ist gleichfalls, dass der arme Plümicke das Haus letztlich zugesprochen bekam, da weiland nicht so viele holländische Siedler wie erhofft nach Potsdam zogen. Wie auch immer, kein schlechter Tausch.

 

 

Hans-Joachim Giersberg/Adelheid Schendel: Potsdamer Veduten. Stadt- und Landschaftsansichten vom 17. bis 20. Jahrhundert, Potsdam 1981, S. 131

Ausgabe 48

 

Insel Hermannswerder
Palastvisionen

 

„Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Sie hiermit recht herzlich begrüßen zu einem geführten Rundgang durch das Schloss Belriguardo.“ So oder so ähnlich könnten die einleitenden Worte der ebenso freundlich wie kompetenten Gästebegleitung lauten, wenn … ja wenn die Potsdamer Schlösserlandschaft um ein weiteres Prachtstück erweitert worden wäre. In diesem Fall verrät die explizit südländisch klingende Namensgebung, dass wir in die Epoche König Friedrich Wilhelms IV. zurückkatapultiert werden. Der bekennende Anhänger architektonischer Prägungen aus dem italischen Raum fertigte bereits als Kronprinz nach 1815 unter anderem eine Skizzensammlung an, die einen Schlossbau antiken Stils projiziert, mit Säulengängen sowie einem anliegenden Viadukt. Als Standort war die Halbinsel Hermannswerder angedacht, was als Ergebnis einen großzügigen axialen Raumbezug zum Schloss Sanssouci hergestellt hätte. In summa also ein weiterer Blickfang für die Hohenzollernresidenz unter Einbeziehung der landschaftlichen Begebenheiten. Kein Geringerer als Karl Friedrich Schinkel war ab etwa 1823 in die Gedankenspiele des künftigen Monarchen eingeweiht. Doch sollte dieses Projekt letztlich nie über einen solchen Status hinausgehen. Allenfalls einzelne Elemente des Vorhabens finden sich in anderen Bauwerken aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder. Und damit ist unser Rundgang schon beendet, noch bevor dieser richtig begonnen hat.

 

 

 

Plakette am Karl-Liebknecht-Stadion, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 47


Karl-Liebknecht-Straße 90
Der Chef an der Seitenlinie


„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“. Es sind offiziell noch etwas mehr als sechs Minuten zu spielen im Berner Wankdorfstadion und die deutsche Elf kratzt am 4. Juli 1954 an der Sensation. Im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft bietet sie den schier übermächtigen Ungarn Paroli. Nach einem frühen 0:2 Rückstand kann sie ebenso schnell ausgleichen und will mehr. Gegen jene Ungarn, die Übermannschaft der Nachkriegszeit, die seit mehr als vier Jahren kein Spiel mehr verloren hat. Legendär dabei die Entweihung des heiligen Rasens von Wembley, als die Engländer im November 1953 vor 100.000 Zuschauern mit 3:6 gegen die Magyaren untergingen. Unter den ungläubigen Augen der Londoner Zuschauer sah aber jemand wohl etwas genauer hin und machte sich seine Notizen. Sepp Herberger. Der ehemalige Reichs- und damalige Bundestrainer war zweifelsohne ein alter Hase im Geschäft. Seine aktive Karriere ließ der 1897 geborene Mittelstürmer schon in den späten 1920er-Jahren ausklingen, als er sich gleichzeitig als Spieler und Trainer für Tennis Borussia Berlin betätigte. Tatsächlich weist seine Biografie auch ein kleines Potsdamer Kapitel auf, denn Herberger war in der Saison 1928/29 kurzzeitig Übungsleiter des SV Nowawes 03. Fußballspiele fanden im Babelsberger Arbeitermilieu seit der Jahrhundertwende statt, die Herausbildung von Vereinsstrukturen sollte nicht lange auf sich warten lassen. Die Tradition lebt bis heute, das runde Leder wird dort weiterhin liebevoll mit Füßen getreten. Ob indes noch verstaubte Dokumente existieren, die mehr über Herbergers Zeit am Babelsberger Park verraten, wer weiß? Ein gutes  Vierteljahrhundert später schreibt der Taktikfuchs schließlich Sportgeschichte. Denn „Rahn schießt“ – mit bekanntem Ergebnis.

 

 

Villa Schlössingk in der Kleinen Weinmeisterstr. 17, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 46


Kleine Weinmeisterstraße 17

Das Fräulein Diplom-Ingenieur


Knobelsdorff und Potsdam. Dieses Begriffspärchen steht für höfische Baukunst aus dem 18. Jahrhundert und projiziert vor unseren Augen gleich mehrere, die Stadt bis heute prägende Konstruktionen im Stil des Rokoko. Aus dem Blick gerät aber dabei eine Person, die sich ihren Platz in der Architekturgeschichte gleichermaßen redlich verdient hat. Im Frühsommer 1877 erblickt Elisabeth von Knobelsdorff in Potsdam das Licht der Welt, als Tochter eines Generalmajors und als entfernte Nachfahrin des alten Baumeisters. Ob und in welchem Maße letztere Verbindung die Laufbahn der jungen Dame beeinflusst haben mag, ist nicht überliefert und im Grunde auch nicht von Relevanz. Die Präsenz und die Fürsprache des Vaters gegen die damals zunächst noch beharrlich kopfschüttelnden Behörden waren hingegen hilfreich: Elisabeth darf sich nach Ihrem Abitur als Gasthörerin für Architektur an der TH Charlottenburg anmelden. Kurz darauf – wir schreiben das Jahr 1909 – ist sie die erste ordentlich immatrikulierte Architekturstudentin Deutschlands. Mit der bestandenen Diplom-Prüfung 1911 und der ein Jahr später datierenden Aufnahme in den Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin leistet sie weitere Pionierinarbeit in dieser Branche. Nach dem Dasein als „Feldarchitekt“ zurzeit des Ersten Weltkrieges strebt Elisabeth ein höheres Amt an und wird – dem Widerstand trotzend – nach bestandener Prüfung 1921 zur landesweit ersten Regierungsbaumeisterin (von Potsdam) ernannt. An das berufliche Glück reiht sich kurzerhand das private an: 1922 erfolgt die Hochzeit mit dem Diplomaten Kurt Wilhelm Viktor von Tippelskirch. Jedoch führen die damaligen Konventionen dazu, dass sie als Doppelverdienerin alsbald aus dem Staatsdienst entlassen wird. Bis zur Abreise in die USA 1927, wo ihr Gatte ein gutes Jahrzehnt lang als Generalkonsul tätig ist, verdingt sich die Ehefrau als freie Architektin. Ihre materiellen Hinterlassenschaften sind für diese Zeitspanne und auch generell eher überschaubar respektive unbekannt, wobei sich in ihrer Geburtsstadt noch die von ihr 1924/25 entworfene Villa Schlössingk in der Kleinen Weinmeisterstraße befindet. Ihr immaterielles Erbe ist jedoch ungleich größer.

 

Für einen wertvollen inhaltlichen Hinweis sei an dieser Stelle Jörg Limberg gedankt.

 

 

Auf dem Kiewitt, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 45


Auf dem Kiewitt
Strandgespräche


„Herr Kliem, wenn er keinen Dienst tat, wohnte auf dem Kiewitt, einem abgelegenen Strandstreifen, dessen Name vielleicht das Geschrei der Kiebitze nachahmte. Hinter Balkenstapeln erhob sich nahe am Wasser ein Schuppen für allerlei Geräte und der baufällige Steg, an dem von Zeit zu Zeit ein Fährboot nach dem jenseitigen Ufer anlegte und Leute, meistens mit Fahrrädern versehene, brachte oder mitnahm. Herr Kliem pflegte an den Abenden – denn Badeanstalten werden um sieben Uhr geschlossen – an diesem Uferstreifen zu sitzen und zu angeln.“ Man könnte es durchaus als einen Schlüsselmoment des Romans einordnen, das mit jenen Sätzen von Arnold Zweig eingeleitet wird. Der Beschreibung folgend ereignete sich die fiktive Szene auf der damals noch weithin unbebauten Wasserseite südwestlich des Potsdamer Stadtkerns, mitunter weil das zunächst als „Friedrichsstadt“ titulierte Wohngebiet rund um den Schillerplatz erst zwanzig Jahre später Gestalt annehmen sollte. Als Protagonisten treten auf: Der ehemalige Gefreite Kliem, der sich nunmehr als Schwimmlehrer und Bademeister verdingt, und der jugendliche, aus gutem Hause stammende David. Das beiderseitige Vertrauensverhältnis nahm im Schwimmunterricht des Bankierssohnes seinen Anfang und wird nun mit einer mehr als prekären Angelegenheit auf die Probe gestellt: „Was würden Sie zum Beispiel tun, wenn Sie einem jungen Mädel ein lebendiges Kind eingeflößt hätten und es nun nicht ans Licht dieser schönen Welt kommen lassen wollten?“ Tatsächlich ebnete der Ausgang dieser Unterredung an der einst noch abgelegenen Potsdamer Badestelle den weiteren Verlauf für das Schicksal von Davids Schwester. Für Lenore Wahl geriet der kleine Kosmos ihres Daseins im Sommer 1914 auf gravierende Weise aus den Fugen; just in einer Zeit, als auch das Fanal über die Alte Welt und deren bestehende Ordnung gesetzt wurde.

 

(Zitate entnommen aus: Arnold Zweig: Junge Frau von 1914, Berlin 2001, S. 90, 91f.)

 

 

Gedenktafel für SIegwarth-Horst Günther, Foto: Dr. Marc Banditt

Ausgabe 44


Am Heineberg 2
Depleted Uranium


„Bei diesen Vorgängen werden wieder Erinnerungen an meine Haftzeit im Reichssicherungshauptamt […] wach, dem damaligen Sitz der Deutschen Gestapo.“  Als Siegwart-Horst Günther diese Zeilen auf Toilettenpapier im Kieler Zuchthaus niederschrieb, datieren seine angesprochenen Erinnerungen nicht weniger als ein halbes Jahrhundert zurück. Es sind explizit die Kriegserlebnisse an der Ostfront, die den jungen Abiturienten damals zur Widerstandsgruppe um den Grafen von Stauffenberg führten. Auf der Fahrt von Paris nach Berlin erreicht ihn die Nachricht vom Attentatsversuch am 20. Juli 1944; Günthers Verhaftung erfolgte kurz nach Ankunft und endete in einer mehrmonatigen Haft im Konzentrationslager Buchenwald. Zum Zeitpunkt seiner nunmehr zweiten Inhaftierung hatten sich die geopolitischen Vorzeichen wiederholt geändert. Der aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Kalte Krieg war erst seit wenigen Monaten für beendet erklärt, als sich die im Neuaufbau befindliche Weltordnung durch den Ausbruch des Zweiten Golfkrieges auf dem Prüfstand wähnen musste. Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait beantworteten die Vereinten Nationen mit einem umfassenden Militärbündnis, an deren Spitze die USA 1991 innerhalb von wenigen Wochen den Irak in die Knie zwang. Ein Jahr zuvor trat Siegwart-Horst Günther eine Stelle am Universitätsklinikum in Bagdad an und setzte damit seine jahrzehntelang anhaltende Tätigkeit als Arzt im Nahen Osten fort. In der Zeit nach den Kampfhandlungen diagnostiziert er im Irak eine massive Anhäufung ungewöhnlicher Krankheitsbilder und Missbildungen unter Neugeborenen. Eine prägende Begegnung mit spielenden Kindern in Basra – in dessen Nähe große Panzerschlachten stattgefunden hatten – erhärtet ein toxisches Verdachtsmoment. Mittels eines Diplomatenkoffers schleust Günther im Juni 1995 ein Beweisstück nach Berlin zur Laborprobe … und wird schließlich festgenommen wegen unerlaubten Waffenbesitzes und Verbreitung radioaktiven Materials.


  https://www.gegeninformationsbuero.de/frameset.html?/krieg/uran_waffen_guenther.html

 

 

 

Gedenktafl für Genri Alexandre de Catt in der Berliner Straße 10, Foto: Dr. Marc Banditt

Ausgabe 43

 

Berliner Straße 10
The Great Entertainer

 

Adolph von Menzel erlangte als Maler und Illustrator zeitlebens große Bekanntheit, insbesondere mit seinen Darstellungen von Friedrich II. von Preußen. Eines der ersten Gemälde dazu entstand im Jahr 1850 und zeigt den Monarchen inmitten einer lebhaften Herrenrunde im Schloss Sanssouci. Obwohl das originale Werk seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen bzw. zerstört gilt, transportiert die „Tafelrunde“ bis heute ein prägendes Bild über Wesen und Wirken seiner Majestät. Ein Bild, das intellektuellen Esprit und aufgeklärten Geist in mondäner Gesellschaft ausstrahlt. Grund genug diese illustren Gestalten in aller Kürze zu durchleuchten: La Mettrie segnete im November 1751 das Zeitliche, Graf von Rotheburg einen Monat später, Christoph Ludwig von Stille verstarb im Jahr darauf, Maupertuis und Algarotti nahmen 1753 ihren Abschied vom Hof, zur gleichen Zeit kam es auch zum Zerwürfnis zwischen dem König und Voltaire, Marschall George Keith war überhaupt nur wenige Jahre in Berlin und Potsdam, dessen Bruder James verschied 1758. Immerhin blieb der Marquis d’Argens noch weitere zehn Jahre in Friedrichs Nähe. Eine wohl zufällige Begegnung 1755 in den Niederlanden führte indes dazu, dass alsbald ein neuer Begleiter an die Seite des Königs trat. Der damals 30-jährige Henri Alexandre de Catt wusste Friedrich auf einer Schiffsfahrt nach Utrecht zu imponieren und trat danach offiziell ab 1758 in seine Dienste. Der junge Schweizer Gelehrte firmierte als Privatsekretär, Vorleser und Dialogpartner des Königs – für stolze 22 Jahre. Dann fiel er in Ungnade. Bis zu seinem Ableben 1795 blieb de Catt trotzdem in Potsdam in sesshaft, in jenem Haus, das seine Familie 1773 bezogen hatte. Fast am Ende des alten Stadtgebiets, weit weg vom Schloss Sanssouci.

 

 

 

Plakettte am Reinwasser-Hochbehälter, Foto. Marc Banditt

Ausgabe 42


Große Weinmeisterstraße 43 B

Abwärts in die Neuzeit


Man mag sich unter einer Ikone der Moderne sicherlich etwas anderes vorstellen, uns anleitende und Beispiel zeigende kunst- und architekturhistorische Nachschlagewerke gibt es schließlich zur Genüge. Dass hier vor unseren Augen aber ein Gebäude steht, das nicht nur symbolisch den Start in ein neues Zeitalter in Potsdam versinnbildlicht, mag zur Abwechslung außer Frage stehen. Dazu drehen wir das Rad der Geschichte einfach um etwa 150 Jahre zurück: Die Residenzstadt Potsdam war damals ohne Zweifel ein Ort, der die optischen Sinne zu stimulieren wusste; den Geruchssinn hingegen keineswegs. Denn damals gesellten sich zu den vielen Schlössern, Stadtpalästen und klassizistischen Schmuckbauten zahlreiche Brunnenanlagen, die für die Wasserversorgung von eminenter Bedeutung waren. Die Trinkwasserqualität war – im Vergleich zu heute – jedoch auf einem vorsintflutartigen Niveau. In Fragen der Abwasserentsorgung galten das Prinzip der schnellsten Lösung und des Gewohnheitsrechtes, weshalb schmierige Schlitterbahnen vor den Haustüren und triefende Rinnsteine ein übles Produkt des täglichen Geschäfts darstellten. Ortsansässige Gewässer wie der Stadtkanal mussten simultan als Be- und Entwässerungsstelle herhalten. Die gelinde gesagt daraus entstehenden gesellschaftlichen Bauchschmerzen steigerten sich mit den jahrzehntelang auftretenden Choleraepidemien im 19. Jahrhundert auf verheerende Weise. Potsdam war dabei natürlich kein Einzelfall. Ein Umdenken fand vielerorts statt, wobei die ersten praktikablen Lösungsansätze jenseits des Ärmelkanals Anwendung fanden. Nicht zufällig nahm die Stadt Potsdam englische Expertise beim Bau des ersten Wasserwerks in Anspruch, das im Jahr 1876 den Betrieb aufnahm. Zur am Jungfernsee gelegenen Anlage gehörten nicht weniger als 15 Brunnen mit bis zu 40 m Tiefe, ein Dampfmaschinenpumpwerk mit Druckrohrleitung sowie ein Speicherreservoir, in welches das aus den Brunnen geförderte Wasser hineingepumpt werden konnte. Vom Hochbehälter auf dem Pfingstberg, der ein Fassungsvermögen von 4.000 m³ aufweist, gelangte das Wasser über ein insgesamt fast 50 km langes Netz zu 1.152 Anschlussstellen. Zwar sollte es bis zur Errichtung einer vollständigen Kanalisationsanlage noch gut zwei Jahrzehnte dauern, aber ein erster Schritt in die moderne Zeit war getan. Während das Wasserwerk an der Bertinistraße 1952 stillgelegt wurde, blieb der Reinwasser-Hochbehälter noch bis in die 1990er-Jahre in Betrieb.

 

 

 

Gedenkplakette für Heinrich Kaiser in der Stadtheide, Foto: Marc Banditt

Ausgabe 41

 

Stadtheide 31

Der Architekt mit dem richtigen Taktgefühl

 

Heinrich Kaiser war der älteste der drei Brüder. Der jüngste, Ludwig (Jahrgang 1889), hatte Rechtswissenschaften und Nationalökonomie studiert und schon mit zehn Jahren sein erstes Klavierkonzert öffentlich aufgeführt. In den 1920er-Jahren gab der europaweit gefragte Pianist Soloauftritte und begleitete namhafte Gesangsinterpreten vor Publikum. Der 1885 zweitgeborene Hermann widmete sich neben der Physik und Mathematik auch der Kunstgeschichte. Seine Bewerbung um eine entsprechende Dozentur in Marburg scheiterte 1934 für den Lehrer jedoch am Veto des hessischen Gauleiters, mit dem er wegen einer absichtlichen Nichtnennung Hitlers anlässlich einer Denkmalseinweihung aneinandergeraten war. Heinrich hingegen erblickte im Jahr 1883 das Licht der Welt. Der ausgebildete Architekt war gleichzeitig ein geschätzter Maler und stand quasi in der Linie seines Lehrers Bruno Paul, einem der wichtigsten Wegbereiter moderner Architektur in Deutschland. Kaisers Zeichnungen aus Frankreich während des Ersten Weltkrieges gelangten ebenso auf die Titelseiten der Illustrierten wie auch spätere Arbeiten von ihm. Als Porträtmaler erwarb er zeitlebens die Gunst und den Beifall hoher Adliger und Militärs. Preisgekrönt waren ferner diverse architektonische Entwürfe; die von ihm im Stil einer Gartenstadt konzipierte Siedlung „Potsdamer Stadtheide“ an der Neuen Luisenstraße kam zwischen 1919 und 1923 zur Ausführung. Und nicht zu vergessen seine Passion des argentinischen Tangos. Fast schon legendär ist die Anekdote, als er anno 1926 mit Josephine Baker in einem der damals vielen berüchtigten Berliner Lokale das Tanzbein schwang. In Zeiten, als dort brauner Takt und Gleichschritt vorherrschten, entwickelte sich sein mondänes Wohnatelier am Kurfürstendamm (gegenüber vom Eingang des Zoologischen Gartens) mehr und mehr zum konspirativen Treffpunkt des Widerstandes. Jedoch nicht unbemerkt. Am 21. Juli 1944 wurden alle drei Brüder gleichzeitig auf einem Familienfest in Kassel festgenommen – mit fatalen Folgen.

 

 

Tram Haltestelle Holzmarktstraße, Foto: Marc Banditt

Nr. 40


Haltstelle Holzmarktstraße
Die gute alte Elektrische


Das Jahr 1907. Im Süden Großbritanniens findet das erste Pfadfinderlager der Welt statt. In Mexiko-Stadt erblickt Frida Kahlo das Licht der Welt. Erstmals dürfen in einem europäischen Land (Finnland) Frauen den Gang an die Wahlurnen begehen. Der Privatbankier J. P. Morgan rettet die USA vor dem Staatsbankrott. Aus dem Dubliner Schloss werden die „irischen Kronjuwelen“ gestohlen, die seitdem als verschollen gelten. In Hamburg startet der Tierpark Hagenbeck als weltweit erster Zoo ohne Gitter seinen Betrieb. In Berlin öffnen das Adlon und das KaDeWe ihre Pforten. Und in Potsdam? Am 2. September hält Oberbürgermeister Dr. Kurt Vosberg am neu erbauten Straßenbahndepot in der Holzmarktstraße eine feierliche Rede und lässt es sich anschließend nicht nehmen, an der Jungfernfahrt einer elektrisch angetriebenen Bahn teilzuhaben. Vorbei sind damit die Zeiten, als noch Pferde die Wagen auf den Schienen durch die märkische Residenzstadt ziehen mussten. Im Vergleich zu damals hat sich das Streckennetz bis heute – auf rund 30 km mit knapp 130 Haltepunkten – beträchtlich erweitert. Ebenso gewandelt haben sich im Laufe der Zeit freilich das äußere Gewand oder auch die innere technische Ausstattung der Wagen. Doch im Grunde ist das Wesentliche unverändert geblieben: Seit 115 Jahren schlängelt sich die Tram geschickt an Freund und Feind vorbei durch den Potsdamer Verkehr, rattert mit frivolem Charme um die Kurven und lässt ein unwiderstehliches Klingeln ertönen, wenn man sich ihr in den Weg stellt. Seit 115 Jahren sehnen wir – übermüdet und vom Regen durchnässt – den Moment herbei, wenn sie endlich um die Ecke biegt und uns nach einem langen Tag nach Hause bringt. Und schließlich rennen wir seit 115 Jahren das Ziel vor Augen habend mit dem Mut der Verzweiflung - um im letzten Moment die Bahn dann doch noch zu verpassen.      

 

 

Wir winken hinterher und verabschieden uns mit diesem Beitrag in die Sommerpause!

 

 

 

Geschwister-Scholl-Str. 59, Foto: Marc Banditt

Nr. 39


Geschwister-Scholl-Straße 59
Der ominöse letzte Zug


Ein Mann. Eine Dekade. Ein Balkon. Mit dem Umzug von Weimar nach Potsdam am Ausgang des Ersten Weltkrieges wollte sich Gustav Kiepenheuer näher am Puls der Zeit bewegen, der damals unzweifelhaft in der deutschen Hauptstadt vorgegeben wurde. Kein schlechter Schachzug aus Sicht eines Verlegers. Es liest sich heute wie ein Who is who der progressiven Gegenwartsliteratur – Bertolt Brecht, Arnold Zweig, Ernst Toller, Marieluise Fleißer, Lion Feuchtwanger, Joachim Ringelnatz, Anna Seghers usw. Nicht zu vergessen die pfiffigen und mit einem guten Riecher ausgestatteten Lektoren Ludwig Rubiner, Hermann Kasack oder Hermann Kesten. Der charismatische, kumpelhafte und impulsive Kiepenheuer konnte seinen 1909 gegründeten Verlag schrittweise nach oben führen. Temporäre Zahlungsschwierigkeiten und die eine oder andere persönliche Animosität seiner Schützlinge blieben dabei natürlich nicht aus, was man in diesem Metier wohl als notwendiges Geschäftsrisiko verbuchte. An namhafter Konkurrenz innerhalb Potsdams hatte es nicht gemangelt, wenn man sich beispielsweise vor Augen führt, dass die Beiträge der Kollegen Tucholsky und Ossietzky für die Weltbühne hier ebenfalls in den Druck gingen. Sogar die eigene Ex-Frau Irmgard, die nach der Scheidung trotzdem nur einen Steinwurf entfernt wohnte, blieb weiter in der Branche tätig (und leitete ab 1925 den Verlag Müller & I. Kiepenheuer). Worin lag also das Erfolgsgeheimnis des Mannes, der nach seinem Umzug nach Berlin 1929 endgültig zu einem der führenden Verleger Deutschlands avancierte und – wenig überraschend – dessen Autoren nach 1933 zu großen Teilen mit Berufsverbot belegt worden sind? Vielleicht lag es an den klaren Gedanken, die Kiepenheuer zu finden vermochte, während er mit Vorliebe auf seinem Balkon den Blick über den Park schweifen ließ. Vielleicht half ihm seine Trinkfestigkeit – damals eine durchaus relevanter Faktor in diesem Berufsfeld. Vielleicht war es aber auch der Umstand, dass die geselligen, feucht-fröhlichen Zusammenkünfte zwischen den Literaten in der ehemaligen Victoriastraße zumeist länger als gedacht andauerten, da einige illustre Gästen nicht selten den letzten Zug zurück nach Berlin verpasst haben. Wer weiß?  

 

 

 

Dortustr. 38, Foto: Marc Banditt

Nr. 38


Dortustraße 65
„Das ist unser Haus“


Es waren gerade einmal ein paar Wochen vergangen als Günter Schabowski vor den laufenden Kameras der Weltpresse stotternd in seinen Unterlagen kramte und dann seine legendären Wortfragmente herausbrachte, da markierte ein kleines Straßenfest an einer schlaftrunkenen Häuserecke in der Potsdamer Innenstadt die Zeitenwende der Wendezeit auf eine ganz eigene, alternative Weise. Ein ominöses Flugblatt. Es wird gefordert: ein unabhängiges Jugendzentrum. Ein kleines Café wird hier bald eröffnen. Rückblickend ließe sich die erste offizielle Hausbesetzung in der Innenstadt am 11. Dezember 1989 als Startschuss für eine Entwicklung einordnen, die Potsdam den Ruf als bundesweite Hochburg der Szene einbrachte. Nicht verschwiegen werden soll der Umstand, dass illegale Inanspruchnahmen in dieser Stadt noch weiter zurückdatieren. Der sozialistische Zahn der Zeit nagte vielerorts beharrlich an der alten Bausubstanz mit teils verheerenden Auswirkungen. Der Ruf nach Wohnraum hatte damals eine andere Tonlage, wurde im Stillen praktiziert, und wenn, dann auch schweigend vonseiten der staatlichen Behörden geduldet. Für so manch eine barocke Behausung hätte es wohl ohne die improvisierten Instandhaltungsmaßnahmen und unverhofften Heizeinheiten nicht für den späteren Etikettenwandel von der Altbauruine zum begehrten Investitionsobjekt gereicht. Rund 3.500 Wohnungen soll der Leerstand in der City unmittelbar vor dem Fall der Mauer betragen haben. 1991 waren rund 30 Häuser gleichzeitig besetzt, was gemessen an der Einwohnerzahl tatsächlich einen Spitzenplatz im wiedervereinten Deutschland bedeutete. Der anhaltende Trend in den darauf folgenden Jahren wurde dann fast schon unausweichlich begleitet von zahlreichen Auseinandersetzungen und Polizeiaktionen. Für alle damals Unbeteiligten genügt heute allein ein einfacher Gang die Gutenbergstraße entlang, um das Resultat der Ereignisse zu rekapitulieren. Jedoch, hinter der einen oder anderen Häuserecke verbergen sie sich noch, die kleinen schnörkellosen Anekdoten, wie es damals so war, in Potsdam, der Hauptstadt der Hausbesetzer.

 

 

 

 

Berliner Tor, Foto: Marc Banditt

Nr. 37

 

Ecke Berliner Straße / Türkstraße
Vergessener Vorposten

 

Ein Ausflug nach Potsdam für Berlinreisende war bereits im 18. Jahrhundert quasi obligatorisch, als das Reisen vermehrt in Mode kam – zumindest für diejenigen, die genug Kleingeld in ihrem Goldsäckchen vorfinden konnten. Per Pferdekutsche dauerte es durchaus einige Stunden, bis die an der Spree startenden Reisegesellschaften die damals noch hölzerne Glienicker Brücke passierten und damit endlich die märkische Residenzstadt erreichten. Anders als heute war jedoch die Berliner Vorstadt noch nicht gesäumt von beschaulichen Villen und illustren Bewohnern. Im Gegenteil. Dieses außerhalb des Ortes liegende Stück Land war ehedem karg besiedelt und fungierte höchstens als Stellfläche für das städtische Armenhaus oder für das Hospital. Ankommende bekamen also von weitem zunächst nur einen schnurgeraden Blick auf die Stadtmauer geboten, an deren Durchlass den Einreisenden dann eine – wie man einst sagte – Examination seitens der freundlichen Herren in blau erwartete. Vielleicht liegt darin die Ursache, warum kaum jemand der Passanten (zumindest schriftlich) Notiz von dem Berliner Tor nahm. Vergebens sucht man in den durchaus vielfältig vorhandenen Reisejournalen zu Potsdam ein paar Bemerkungen dazu. Allenfalls der damalige Baumeister Heinrich Ludwig Manger widmet dem Bauwerk einige Zeilen in seiner umfassenden Darstellung zur lokalen Baugeschichte. „Die Außenseite nach der Berliner Vorstadt zu besteht aus einem simpeln Portale korinthischer Ordnung, dessen Bogen-Oefnung auf jeder Seite zwey dreiviertheil oder Wandsäulen und Postamenten von Sandstein hat. Das Gesims und die Attik sind von eben dergleichen Stein, und auf letztern stehen vier römische Soldaten […] Nach innen zu sind die an das Portal stossenden Gebäude Zirkelförmig gebogen; auf der rechten Seite des Ausganges sind in denselben die Wachtstuben für Officiers und Gemeine; auf der linken Seite die Gemächer zur Wohnung des Thoreinnehmers und des Visitators. Das an demselben im halben Zirkel herumlaufende Gesims ist dorischer Ordnung mit Trygliphen und Dielenköpfen, nebst zwey großen Tragesteinen, auf jeder Seite des Abschnitts einer, ohne Säulen oder Pilaster.“1  Manger beschrieb darin die 1752/53 errichtete Zweitfassung, da das 1733 ursprünglich fertiggestellte Tor im Zuge der Zweiten Stadterweiterung aufgrund der Verlegung der Stadtmauer abgetragen wurde. 200 Jahre später – 1952 – wurde das zwischenzeitlich (1901) nochmals um 15 m verlegte Tor endgültig abgerissen. Teils waren kriegsbedingte Umstände dafür verantwortlich, teils aber auch die Erfindung moderner Kutschen und damit ein zunehmendes Verkehrsaufkommen. Während also einige der übrigen, mitunter aufwendig restaurierten, Stadttore heute offiziell zu den Sehenswürdigkeiten Potsdams zählen, erinnert an jenen Ort, wo Touristen früher die Stadt betraten, einzig ein verbliebener Seitenflügel am Straßenrand.

 


1) Heinrich Ludewig Manger’s Baugeschichte von Potsdam, besonders unter der Regierung König Friedrichs des Zweiten. Erster Band, welcher die Baugeschichte von den ältesten Zeiten bis 1762 enthält, Berlin und Stettin 1789, S. 162 f.

 

 

 

 

 

 

Stadtrelief Kirchsteigfeld, Foto: Marc Banditt
Nr. 36

Ecke Eleonore-Prochaska-Straße / Ricarda-Huch-Straße
Zurück in die Zukunft


Klar gegliederte Konturen formen zielsicher das Gefüge eines Raumes, der durchzogen von axialen Sichtbeziehungen und symmetrischen Anordnungen eine in sich abgeschlossene und zugleich durchkomponierte Einheit abbildet. Das idealisierte Muster einer klassischen Planstadt liegt direkt vor unseren Augen, entworfen an einem Reißbrett vorindustrieller Prägung – diesen Eindruck vermittelt zumindest das antiquiert wirkende, aufgeblätterte Stadtrelief. Doch kaum schweift der Blick von der Miniaturdarstellung ab, macht sich umgehend die Erkenntnis breit, dass die folgenden Fußschritte nicht den Eintritt in eine barocke Vergangenheit bedeuten werden. Im Gegenteil. Vor uns liegt eines der jüngsten komplett neu erbauten Stadtviertel Potsdams. 1991, unmittelbar nach dem letzten politischen Umbruch, erwarb eine private Investorengruppe ein 60 ha großes Areal am südöstlichen Rand der Stadt nahe des Hirtengrabens, der in der Parforceheide entspringt. In den darauffolgenden Jahren entstand mit dem Kirchsteigfeld eines der damals größten aus dem Boden gestampften Siedlungsgebiete ganz Ostdeutschlands mit weit mehr als 2.000 Wohnungen. Rund zwei Dutzend Architekten waren an den Bauvorhaben beteiligt und verhalfen dem Quartier zu einer gestalterischen Vielfalt an Farben und Formen im Detail, eingepasst in ein stringent entwickeltes Gesamtkonzept, das sichtbar über eine stadtplanerische Spielwiese hinausgeht. Trotz des postmodernen Anstrichs ist gleichzeitig die Rückbesinnung auf die traditionellen Bausteine urbaner Strukturen erkennbar, in Anbetracht der gravitativ anmutenden Anordnung der Straßenführung hin zum Marktplatz mitsamt seines anliegenden Kirchenbaus. Es passt ins Bild der Gegenwart, dass unter diesem Dach zwei Gemeinden unterschiedlicher Prägung miteinander leben. 

 

 

 

Hans-Sachs-Str. 13, Foto: Marc Banditt
Nr. 35
 
Hans-Sachs-Straße 13
Abgeschlossen

 

„Längst war ihm aufgefallen, daß niemals aus den offenen Fenstern eine lärmend verzerrte Radiomusik die Straßen überschwemmte.“ Seit seiner Ankunft entschlüsselt Robert Lindhoff Schritt für Schritt, warum ihm zuweilen vertraute Gesichter an einem ihm eigentlich unbekannten Ort begegnen und letztlich, welche Sinnerfüllung die „Stadt hinter dem Strom“ offenbart. Es ist eine zutiefst surreale Szenerie, durch die Hermann Kasack seine Hauptfigur streifen lässt auf der verstörenden Suche nach rationalen Erklärungen in einer psychologisch abgründigen Umgebung kafkaesken Zuschnitts. Dem 1896 in Potsdam geborenen Autor gelang damit ein Meilenstein des Existenzialismus im Angesicht der totalitär gewordenen Zerstörungskraft des Zweiten Weltkriegs. Denn „[k]aum hatte sich der jahrtausendalte Traum der Menschheit erfüllt, aufzusteigen in den Raum der Luft, zu schweben, zu fliegen, da benutzen sie diese neuen Maschinen nur dazu, um alle Errungenschaften ihrer Vergangenheit sich aus der Luft gegenseitig zu vernichten.“ Es war ein Herzfehler, der den jungen Kasack nach zwei Monaten Fronterfahrung 1914, kurz nach seinem Notabitur, zurück ins zivile Leben holte, in dem er sich anschließend studierend, dichtend und lektorierend verdingte. Für das neue Massenmedium Radio schuf er zudem zahlreiche Hörspiele. Bis zur Zeitenwende 1933. Seitdem schlug der Autor und Lyriker Schritt für Schritt den Gang in die innere Emigration ein. An seinem langjährigen Wohnhaus in der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Allee 13 hängt noch eine unmerkliche Gedenktafel. Dort begann der spätere Mitgründer des Deutschen P.E.N.-Zentrums und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur im Jahr 1942 mit den Arbeiten an seinem bekanntesten und bis heute in acht Sprachen übersetzten Buch. Zu Ende geführt hat er das Werk jedoch hier, in der Brandenburger Vorstadt – erneut in der Hausnummer 13. Aus den Geschehnissen der metaphysischen Parallelwelt holte Kasack die erbarmungslose Realität ein, als sowjetische Besatzer sein beschauliches Domizil in der Hegelallee nach Kriegsende beschlagnahmten. „Dies war kein Taumel mehr, keine Verstellung, dies war der volle Wahnsinn.“

 (Zitate aus: Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom, Berlin 1947, S. 189, 303, 344)

 

 

 

Gedenktafel an der Kirche Sacrow, Foto: Marc Banditt

Nr. 34

Heilandskirche Sacrow
Mit Gott auf einer Welle

 

Seit gut einem halben Jahrtausend gilt das Verhältnis als problembehaftet und gegensätzlich. Das schwelende Konfliktpotenzial zwischen Glaube und Naturwissenschaft bekamen von da an nicht wenige unbeugsame Gelehrte zu spüren, prominente Beispiele aus der Weltgeschichte gibt es dafür bekanntermaßen genug. Dass es mitunter anders laufen kann, beweist indes eine Episode aus dem Sommer des Jahres 1897, die uns an den Rand des Jungfernsees führt. Eine paradiesische Umgebung, die ein herrliches Laboratorium der Natur schuf für die angenehmsten Forschungen seines Lebens. Dazu eine Erlaubnis, die von allerhöchster Stelle kam – nicht von Gott, aber immerhin vom Deutschen Kaiser. In den 1911 veröffentlichten „Entdeckungsfahrten in den elektrischen Ozean“ beschreibt Adolf Slaby ausführlich und hübsch bebildert seine Versuche auf dem Gebiet der Funkentelegrafie. Als Basisstation für die Testreihe in Potsdam, bei der Slabys Schüler Georg Graf von Arco assistierend zur Seite stand, diente die Station Kongsnaes, deren Flaggenmast damals extra erhöht worden ist für die Installierung des Empfängerdrahtes. Als Sendeort hielt zunächst das drei Kilometer entfernte Schloss auf der Pfaueninsel her, wobei die Apparatur dort im Inneren aufgestellt war, der damit verbundene Draht hingegen über einen Mast senkrecht vom Schloss abgeführt werden sollte, welcher wiederum an der optisch hervorstechenden Brücke zwischen den Rundtürmen angebracht war. Die spektakuläre Versuchsanordnung erzielte jedoch nicht den gewünschten Effekt. Also halbierte man die Entfernung, suchte sich aber ein vom Rang her ähnlich repräsentatives Objekt, welches zudem in direkter Sicht zur Matrosenstation lag: die Heilandskirche in Sacrow. Der seitlich vom Kirchenschiff platzierte, 20 m hohe Campanile fungierte schließlich als Befestigungsstelle für den den Kupferdraht festhaltenden Mast. Mit Erfolg! Am 27. August 1897 glückte tatsächlich die Signalübertragung. Ob nun die Gesetzmäßigkeiten der Physik oder vielleicht doch ein klein wenig der göttliche Beistand zum Durchbruch führte, lassen wir an dieser Stelle einfach mal unberücksichtigt. Festzuhalten bleibt, dass am Port von Sacrow die erste deutsche Antennenanlage für drahtlose Telegrafie errichtet wurde.     

 

 

 

Gedenktafel für Maria Christiana Eleonore Prochaska, Foto: Marc Banditt

Nr. 33

Lindenstraße 34
Wer war August Renz?

 

Lieber Bruder!
Nun habe ich Dir noch etwas ganz Neues zu erzählen, worüber Du mir aber vorher versprechen mußt, nicht böse zu sein. Ich bin seit vier Wochen schon Soldat! Erstaune nicht, aber schelte auch nicht; Du weißt, daß der Entschluß dazu schon seit Anfang des Krieges meine Brust beherrschte. Schon zwei Briefe […] erhielt ich, die mir vorwarfen, ich sei feige, da Alles um mich her entschlossen ist, in diesem ehrenvollen Kriege mitzukämpfen. Da wurde mein Entschluß unumstößlich fest; ich war im Innern meiner Seele überzeugt, keine schlechte oder leichtsinnige That zu begehen, denn sieh nur Spanien und Tyrol […] Ich verkaufte alle mein Zeug […] dann kaufte ich mir eine Büchse für 8 Thlr., Hirschfänger und Czako zusammen 3 ½ Thlr. Nun ging ich unter die schwarzen Jäger; meiner Klugheit kannst Du zutrauen, daß ich unerkannt bleibe. Ich habe nun noch die große Bitte, daß Du es Vatern vorträgst, so vortheilhaft wie möglich für mich. Vater wird mir nicht böse sein, glaube ich […], wobei er meinen Entschluß deutlich auf meinem Gesichte lesen konnte. […] Wir exerzieren, tirailliren und schießen recht fleißig, woran ich viel Vergnügen finde; ich treffe auf 150 Schritt die Scheibe.
Lebe recht wohl, guter Bruder! Ehrenvoll oder nie siehst Du mich wieder. Grüße Vater und Karolinen tausendmal, sage ihnen, versichere sie, daß mein Herz stets gut und edel bleiben wird, daß keine Zeit, Schicksal oder Gelegenheit mich zu Grausamkeiten oder bösen Handlungen verleiten, und daß stets mein Herz treu und bieder für Euch schlägt. Mit ewiger Liebe
Deine Leonore, genannt August Renz
                        
(Zitiert nach: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams, Band 3, 1867, S. 139)

 

 

 

 

Gedenktafel für Johanna Just, Foto: Marc Banditt

Nr. 32
Berliner Straße 114/115
Nicht nur Servieren und Drapieren

 

Der Architekt des markant hervorstechenden, fünfgeschossigen Bauwerks in der Berliner Vorstadt hätte es durchaus verdient gehabt, an dieser Stelle etwas mehr in den Fokus gerückt zu werden. Immerhin gehen auf den zeitweiligen Regierungsbaumeister des preußischen Staates (von 1905 bis 1912) einige bemerkenswerte architektonische Kreationen zurück wie das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin, das Empfangsgebäude des S-Bahnhofs Berlin-Nikolassee, die Rundkirche auf dem Tempelhofer Feld oder das dort anliegende Fliegerviertel. Jedoch muss sich Fritz Bräuning dieserorts hinter den jungen Damen anstellen, die dem Haus Leben einhauchten. Weil das anfängliche Anwesen in der Friedrich-Ebert-Straße aufgrund des enormen Zulaufs zur 1904 verstaatlichten (also königlichen) Handels- und Gewerbeschule für Mädchen mit Lehrerinnenbildungsanstalt aus allen Nähten platze, erfolgte vier Jahre später der Umzug in das neue Schulgebäude. Kaiserin Viktoria höchstpersönlich wohnte der Einweihung bei. Auf dem einheitlichen Stundenplan für die angehenden Frauen stand weit mehr als Kochen, Servieren, Nähen und der Umgang mit modernen Haushaltsgeräten; vermittelt wurden ebenso grundlegende wirtschaftliche Kenntnisse, mitunter veranschaulicht durch Betriebsbesichtigungen und eigens zu absolvierende Praktika. Die regelmäßige sportliche Betätigung durfte im Curriculum ebenfalls nicht fehlen. Offenbar wusste Johanna Just, was und wie sie es erreichen wollte. Die 1861 Geborene hatte selbst in jungen Jahren eine höhere Mädchenschule und das Lyzeum in Dresden besucht, bevor sie nach Berlin übersiedelte. Zusammen mit ihrer Schwester und mit ihrer Mutter hob sie bereits 1889 in der Nähe von Köpenick eine private Bildungs- und Erziehungsanstalt aus der Taufe. Jahrzehnte später erlangte die ab 1918 firmierende „Staatliche Handels- und Gewerbeschule für Mädchen zu Potsdam“ überregionale Bedeutung. Deren Gründerin Frau Just blieb der Einrichtung als Direktorin bis 1926 vorstellig. Drei Jahre darauf schied sie aus dem Leben. Aber das in den 1990er-Jahren denkmalgerecht sanierte, fünfgeschossige Bauwerk in der Berliner Vorstand hat seine und ihre Geschichte bis heute nicht vergessen.

 

 

 

Teufelsgrabenbrcke, Foto: Marc Banditt

Nr. 31
Am Teufelsgraben
Ponte sine aqua

 

 

Lustwandeln auf einem römischen Viadukt? In den Fußspuren der kaiserlichen Armee? Und einmal von der ältesten Brücke der Stadt in die Landschaft blicken? Das alles zusammen geht in Potsdam an nur einem Ort. Verantwortlich für die Entstehung der Teufelsbrücke – eigentlich Teufelsgrabenbrücke – in den Jahren 1843/44 war das Duo Peter Joseph Lenné und Ludwig Persius auf Geheiß des Monarchen Friedrich Wilhelm IV., bekanntlich ein bekennender Freund der italienischen Baukunst. Gleichwohl fällt dieses Exemplar eines Viadukts etwas kleiner aus als die vielen Vorreiter aus der antiken Zeit. Geübt darin war Persius durch die Errichtung der Teufelsbrücke im Park Klein-Glienicke einige Jahre zuvor – in Gestalt einer damals nicht unüblichen Ruine. Hier jedenfalls, eingebettet in den Landschaftspark, der vom Krongut Bornstedt bis zum Schloss Lindstedt reichte, lange bevor die um 1900 angelegte Amundsenstraße dieses Terrain zerschnitten hat, führte die fünfbogige Fußgängerbrücke aus Stein über einen kleinen Kanal. Dessen Anlegung datiert wiederum zurück auf das Jahr 1786, weil der Bornstedter See aufgrund von Überschwemmungsgefahr die umliegende Gegend in Mitleidenschaft zog und das Wasser auf diese Weise in das Golmer Luch abgeleitet werden sollte. Ferner erleichterte die Überführung den Waffenträgern des Kaisers den Gang in das benachbarte Katharinenholz mit seinen noch sichtbaren wuchtigen Schießständen. Seit 1891 fließt jedoch das Wasser durch unterirdisch angelegte Tonrohre. Auch die kaiserlichen Soldaten haben schon lange ausgedient. Heute erhält die kleine Brücke hinterm Wegesrand der frequentierten Straße zumeist nur flüchtige Blicke aus den Seitenfenstern der vorbeifahrenden Autos. Wenn doch nicht nur der Verkehr dort so flüssig laufen würde.

 

 

 

 

Ehemaliges Filmtheater „Charlott“, Zeppelinstraße 37, Foto: Marc Banditt

Nr. 30


Zeppelinstraße 37
Der Sta(a)r und seine Kinos


Derzeit gibt es in der Hauptstadt des Bundeslandes Brandenburg insgesamt drei reguläre Kinos. Kaum noch vorstellbar ist die über einhundert Jahre zurückliegende wilde Anfangszeit, als über provisorische Schaubuden und in verrauchten Hinterzimmern von Gaststätten kinematografische Vorstellungen liefen. Binnen weniger Jahre hatte sich das Medium Film als massentauglich erwiesen, was die Eröffnung fester Spielstätten nach sich zog. Die janusköpfigen 1920er-Jahre, in denen sich kultureller Aufbruch und soziales Elend ablösten, bildeten allerdings keine günstigen Voraussetzungen, zumal die Umstellung auf den Tonfilm am Ende der Dekade nochmals erhebliche Investitionen erforderte. Findigen Unternehmergeist personifizierte in jener Zeit Fritz Staar, der 1897 mit zwanzig Jahren nach Berlin kam, wo er anfangs eine Konditorei und ein Café betrieben hatte, bevor er dort 1909 sein erstes Kino erwarb. In Potsdam übernahm Staar 1918 das später als „Melodie“ firmierende Lichtspieltheater in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße. 1924 kamen die „Obelisk-Lichtspiele“ (Schopenhauerstraße 27) in seinen Besitz, weitere fünf darauf das „Alhambra“ (Französische Straße 7/8), das er mit 700 Plätzen zum größten Kino der Stadt umbauen ließ. Mit dem Kauf des späteren „Charlott“ (Zeppelinstraße 37) im Jahr 1934 wuchs seine Marktstellung noch weiter an, schon plante Staar den nächsten Coup: die Errichtung des legendären „Bergtheaters“ am Brauhausberg. Potsdams modernstem Kino war jedoch nur eine Existenz von viereinhalb Jahren beschieden; es wurde in der Nacht zum 15. April 1945 ebenso zerstört wie das Alhambra. Mit der Verstaatlichung des Lichtspielwesens verlor der in West-Berlin ansässige Mogul danach Schritt für Schritt seine weiteren Besitztümer an der Havel. Obwohl die angewandten Methoden zur Erlangung der monopolartigen Position teilweise kritisch zu hinterfragen sind, hat Fritz Staar zweifellos eine Ära in der Filmstadt geprägt. Über den 1956 Verstorbenen ist dennoch vergleichsweise bekannt. Und in seinen Potsdamer Lichtspielpalästen sind die letzten Vorhänge schon längst gefallen.

 

 

 

Comenius-Denkmal auf dem Weberplatz, Foto: Marc Banditt

Nr. 29

 

Weberplatz

Der verspätete Exilant

 

„Ich bemerkte auch von hier jenseits der Havel, aber dicht an derselben und der Stadt gerade gegenüber, ein Dorf, das eine hübsche Anlage hat, und darinnen mir viele Häuser neu zu seyn schienen. (…) Die Böhmen haben diesem Dorfe den Namen Nova Zesta gegeben, auf teutsch wird es aber Neu Neuendorf genannt. Man hält Gottesdienst in der dasigen Kirche in böhmischer und teutscher Sprache, aber nur lutherischen.“ 1
Die angesprochenen Häuser aus der am Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichten Reisebeschreibung waren zu dieser Zeit tatsächlich noch nicht sehr alt. Ab 1751 ließ König Friedrich II. die Kolonie mit den teilweise heute noch erhaltenen schmucken Weberhäusern errichten. Ähnlich wie seine Vorfahren konnte seine Majestät damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die brandenburgisch-preußische Fahne der Toleranz hochhalten und gleichzeitig die Peuplierung der Streusandbüchse des Reiches ein wenig ankurbeln. Nach französischen Hugenotten, Schweizer Calvinisten und Salzburger Exulanten waren es nun böhmische Glaubensflüchtlinge, die dem lockenden Ruf der Hohenzollern in die Mark folgen sollten. Es passt dazu ins Bild, dass mit Jan Boumann ein aus Holland eingewanderter Baumeister die Kirche am Weberplatz entwarf. Auch wenn sich während der darauffolgenden Jahrzehnte nicht nur Siedler aus Böhmen und Mähren dort niederließen, blieb deren kultureller Einfluss prägend. Festzumachen ist dies an der bleibenden Ortsbezeichnung „Nowawes“ und ferner am gewährten Recht auf tschechischsprachige Unterrichtsstunden und Gottesdienste in der Friedrichskirche, wie der namentlich nicht genannte, aber informierte Reisende bemerkte. Mit etwas zeitlicher Verzögerung traf dann auch der geistige Patron der Schutzsuchenden in Potsdam ein; ein umfassend gebildeter und – im Schatten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges – weit gereister Theologe, ein personifizierter Klassiker der Pädagogik und der Didaktik, ein europäisches Schwergewicht der Philosophie und schließlich Bischof der Böhmischen Brüdergemeine. Seit seiner Ankunft im Jahr 1995 wacht beharrlich vor dem Gotteshaus der Weberkolonie Jan Amos Komenský – hierzulande besser bekannt unter dem Namen Johann Amos Comenius.


1) Beschluß der Briefe eines Reisenden aus Berlin, in: Der Teutsche Merkur vom Jahr 1788, Drittes Vierteljahr, S. 173f.

 

 

 

Informationstafel am Uni-Standort Griebnitzsee, Foto: Marc Banditt

Nr. 28

 

Ecke Stahnsdorfer Straße / Prof.-Dr.-Helmert-Straße
Wo Wissenschaft an Grenzen stieß

 

So langsam verschwindet auch der letzte Hauch unfreien Atems, der sich Jahrzehnte lang beharrlich in den mittlerweile weitgehend renovierten Wänden festgesetzt hat. Zweifellos haben die Gemäuer viel gesehen und erlebt. Das alte Depotlager des Deutschen Roten Kreuzes in Neubabelsberg bekam nach 1933 weitaus mehr als einen neuen nationalsozialistischen Anstrich. Am 26. Januar 1939 erfolgte die Grundsteinlegung für ein neues Präsidialgebäude im üblichen Monumentalstil der NS-Architektur. Der Beschluss, den Hauptsitz des DRK von Berlin hierher zu verlegen, war ein Jahr zuvor gefällt worden. Als 1940 das Richtfest gefeiert wurde, standen die Zeichen schon längst auf Krieg, beim Einzug Anfang 1943 auf Rückzug an den Fronten. Nach Ende der Kampfhandlungen hatte das Oberkommando der sowjetischen Streitkräfte für einen kurzen Zeitraum seinen Sitz in dem jungen und imposanten Bau genommen. Zu Beginn der 1950er-Jahre ging der Komplex schließlich in den Besitz der DDR über, die die „Deutsche Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften Walter Ulbricht“ ins Leben rief. Eine Kaderschmiede, in der Zöglinge die theoretischen Grundlagen für die Arbeit im Staatsapparat, in der Verwaltung und im diplomatischen Dienst vermittelt bekamen. Eine praktische Bewährungsprobe erhielten die Dozenten und Kommilitonen schon am 17. Juni 1953 beim persönlichen Einsatz gegen konterrevolutionäre Umtriebe in der Bezirksstadt. Mit der Umbenennung der Hochschule im Jahr 1973 wurden die Begrifflichkeit „Deutsch“ gegen „DDR“ ausgetauscht, und auch den verstorbenen Staatsratsvorsitzenden suchte man fortan vergebens in der nunmehr geltenden offiziellen Bezeichnung der Einrichtung. Trotz gelegentlicher interner Umstrukturierungen änderte sich an der eigentlichen Zielstellung der Akademie im Prinzip nichts. Dazu genügte allein ein Blick aus dem Fenster. Zu sehen gab es einen Abschnitt des insgesamt 156,4 km langen baulichen Ungetüms, das rücksichtslos eine Kerbe zwischen gewachsene Land- und Freundschaften geschlagen hatte – direkt dahinter das Territorium des Klassenfeindes. Bekanntlich ist diese Grenze nicht mehr existent und die Wissenschaft hat sich an diesem Standort neu aufgestellt. Wo ehemals Wachanlagen standen, befinden sich heute Wohnanlagen. Und aus dem Todesstreifen ist ein Grünstreifen geworden.

 

 

 

 

Gedenktafel am Geburtshaus Ernst Hackels in der Yorckstraße 7, Foto: Marc Banditt

Nr. 27


Yorckstraße 7
Der deutsche Darwin dekonstruiert


Domgymnasium Merseburg, Alexander von Humboldt, Universität Würzburg, Rudolf Virchow, Berlin, Johannes Müller, Anna Sethe, Golf von Neapel, Radiolarien, The Origin of Species, Evolution, Universität Jena, August Schleicher, Leopoldina, Generelle Morphologie, Ökologie, London, Charles Darwin, Thomas Huxley, Kanaren, Agnes Huschke, Natürliche Schöpfungsgeschichte, Norwegen, Dalmatien, Die Kalkschwämme, Biogenetisches Grundgesetz, Ägypten, Türkei, Griechenland, Anthropogenie, Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte, Entwicklungslehre, Schottland, Ceylon, Emil Heinrich Du Bois-Reymond, Zoologisches Institut, Villa Medusa, Universität Edinburgh, Palästina, Syrien, Kleinasien, Algerien, American Philosophical Society, Kunstformen der Natur, Alldeutscher Verband, Finnland, Russland, Frida von Uslar-Gleichen, Korsika, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Nassauischer Verein für Naturkunde, Die Welträthsel, Accademia dei Lincei, Royal Society, Johann Gustav Vogt, Hylozoismus, Monismus, Internationaler Freidenker-Kongress, Gegenpapst, Alfred Ploetz, Gesellschaft für Rassenhygiene, Die Lebenswunder, Alfred Braß, Affenprofessor, Friedrich Naumann, Max Weber, Pazifismus, Bertha von Suttner, Wanderbilder, Deutscher Monistenbund, Schweden, Phyletisches Museum, Kirchenaustritt, L’Institut Franco-Allemand de la Réconciliation, Vernunft und Krieg, Wilhelm Schallmayer, Eugenik, Ewigkeit, Deutsche Vaterlandspartei, Heinrich Schmidt, Carl-Zeiss-Stiftung, Forschungsschiff, URANIA-Medaille usw.


Es sind einfach unzählige Einzelkomponenten – Orte, Anstalten, Strömungen, Theoreme, Objekte, Werke, Vereinigungen, Begleiter, Kontrahenten, Zuschreibungen, Hinterlassenschaften – , aus denen sich das menschliche Gesamtkonstrukt des ebenso wirkmächtigen wie streitbaren Ernst Haeckel zusammensetzt. Fangen wir also einfach ganz vorne an:

Am 16. Februar 1834 wurde in Potsdam…  

 

 

 

Gedenktafel für Carl Teike, Foto: Marc Banditt

Nr. 26


Lange Brücke 6
Ein Weltstar auf Abwegen


Nur mühsam ist die Inschrift zu entziffern. Doch der Aufwand scheint sich zu lohnen. Denn die schwer erkennbaren Worte auf der gräulich-verschlissenen Tafel porträtieren offenkundig eine Berühmtheit, die ein kleines Stück Musikgeschichte geschaffen hat; einen Evergreen, auf der ganzen Welt bekannt, gespielt auf Olympiaden, am New Yorker Broadway, auf der Krönungsfeier für König Georg VI. von England (1937) oder auch im filmischen Meilenstein „Der Blaue Engel“. Bei Carl Teike, geboren im Jahr 1864 in Altdamm bei Stettin, zeigte sich schon früh sein Faible für die Militärmusik. Als Jugendlicher erhielt er in Wollin eine umfassende Grundausbildung, sodass er verschiedene Blasinstrumente, das Schlagzeug und den Kontrabaß beherrschte, bevor 1883 der Gang nach Ulm folgte, um beim Musikkorps des Grenadier-Regiments „König Karl“ (5. Württembergisches) Nr. 123 mitzuwirken. Dort zeigten sich auch seine ersten Gehversuche als Komponist, bis sich 1889 Folgendes ereignet haben soll: Teikes Vorgesetzter und Kapellmeister reichte die ihm vorlegten Notenblätter mit dem Kommentar zurück, man hätte genug Märsche, diesen könne er in den Ofen werfen. Der Verprellte quittierte prompt seinen Dienst und verabschiedete sich von seinen Gefährten, die an jenem Abend nach einigen Krügen Bier dem noch namenlosen Stück einen Titel gaben – „Alte Kameraden“. Während das Lied fortan seinen Siegeszug antrat, marschierte der Komponist derweil in Polizeiuniform weiter, zunächst noch in Ulm und ab 1895 in Potsdam als einfacher Beamter der Königlichen Schutzmannschaft. Carl Teikes musikalischer Schaffenskraft war noch kein Ende beschieden. Als bleibend von seiner Potsdamer Zeit erwiesen sich jedoch nicht etwa Ruhm und Reichtum, sondern eine schwere Lungenentzündung, die ihn untauglich für den Polizeidienst werden ließ, weshalb er 1909 der Stadt Richtung Landsberg an der Warthe den Rücken kehrte. Wie bei vielen seiner Artgenossen davor und danach machten andere mit der Musik Kasse. Die Rechte für seine Werke brachten ihm letztlich nur ein paar schmale Taler ein, weshalb Carl Teike 1922 in einem Armengrab beerdigt worden ist. Traurig aber wahr: Auf einmal wirkt das Erscheinungsbild der Gedenktafel als irgendwie passend.

 

 

 

In der Griebnitzstraße 4 wohnte Kurt von Schleicher, Foto: Marc Banditt

Nr. 25

 

Griebnitzstraße 4

Am Tag des langen Messers

 

Gegen 12.30 Uhr stoppt der Wagen vor dem Anwesen. Fünf Männer in zivil im Alter von 25 bis 30 Jahren betreten schnellen Schrittes das Grundstück der beschaulichen Villa am Griebnitzsee. Es klingelt. Und obwohl die Wirtschafterin zunächst vorgibt, es sei niemand im Haus, drängen zwei der Gestalten vehement darauf, einzutreten. Kurz darauf fallen mehrere Schüsse…

Kurt von Schleicher verstirbt an Ort und Stelle. Seine Frau erliegt wenig später im Krankenhaus ihren Schussverletzungen. Die Tat reiht sich in eine tagelange Mordserie ein, welche Angehörige des SD, der SS und der Gestapo ab dem 29. Juni 1934 verübten und bei der schätzungsweise 150 bis 200 Personen kaltblütig liquidiert wurden. Mit der im Nachhinein als Nacht der langen Messer bezeichneten Aktion wollte die NS-Führung offene Rechnungen begleichen und vermeintlich potentielle Machtkonkurrenten aus dem Weg räumen wie beispielsweise den SA-Führer Ernst Röhm, den innerhalb der NSDAP einflussreichen Gregor Strasser und eben Kurt von Schleicher, Hitlers Amtsvorgänger als Reichskanzler. Ob der General in jener Phase tatsächlich in persona eine realpolitische Bedrohung für die neuen Machthaber darstellte, mag mehr als bezweifelt werden. Darüber hinaus bildet seine Rolle als Strippenzieher hinter den Kulissen am Ausgang der Weimarer Republik den Gegenstand kontroverser Debatten. Und schließlich hinterlässt das Attentat auf Kurt von Schleicher noch immer viele Unklarheiten. So stehen bis heute etwa die Fragen im Raum, wer explizit als Auftraggeber fungierte und wer letztendlich den Abzug der Tatwaffe betätigte. Eine umfassende kriminaltechnische geschweige denn juristische Aufklärung fand nie statt und somit haben die verantwortlichen Beteiligten die Antworten darauf anscheinend mit ins eigene Grab genommen.

 

 

 

Lilienthalstraße 34, Wohnadresse von Michelle Bachelet in Potsdam, Foto: Marc Banditt

Nr. 24

 

Lilienthalstraße 34
Plattendiplomatie

 

Nach den Präsidentschaftswahlen in Chile im Jahr 2006 erreichte Michelle Bachelet – die erste Frau des Landes in diesem Amt – auch ein offizielles Glückwunschschreiben aus Potsdam. Mag dieser Umstand anfangs vielleicht ein wenig verwundern, so treten die Beweggründe des damaligen Oberbürgermeisters sichtbar zutage, wenn wir den Kalender weitere drei Jahrzehnte zurückblättern und das Parkett der internationalen Politik betreten. Chile 1973. Der Putsch des Militärs gegen den demokratisch gewählten Salvador Allende, der Suizid des Präsidenten während des Bombardements des Regierungspalastes und die Machtübernahme der Junta unter der Führung von General Pinochet ließen der Weltöffentlichkeit den Atem anhalten – und der machtpolitischen Arithmetik des Kalten Krieges ihren Lauf nehmen. In der Folge gewährte die DDR rund 2.000 fliehenden Menschen aus dem sozialistischen Bruderstaat Unterschlupf. Zu diesen gehörte auch Michelle Bachelet, Tochter des abgesetzten und gefolterten Chefs der chilenischen Luftwaffe, der loyal zu Allende gestanden hatte. Nach einer mehrwöchigen Foltergefangenschaft in der berüchtigten „Villa Grimaldi“ gelangte sie 1975 gemeinsam mit ihrer Mutter über Australien auf deutschen Boden. Die junge Frau konnte in Berlin Medizin studieren, arbeitete daneben zeitweise in einem Babelsberger Krankenhaus und bezog eine Wohnung Am Stern. Das nach dem Wegestern des alten Jagdschlosses benannte Wohngebiet im Osten wurde in jenen Jahren erst hochgezogen. Für die Betitelung der Straßen und Plätze standen dabei bekanntlich zahlreiche Wegbereiter der noch jungen Erforschung des Weltraums Pate. Gleichwohl fand mit der Wende der eine oder andere Namenswechsel statt wie im Falle der Koroljowstraße, wo die Exilantin etwa zweieinhalb Jahre lang ein Zuhause gefunden hatte, bevor sie nach Chile zurückkehrte. Im Anschluss an eine zweite Amtszeit (2014–2018) als Staatsoberhaupt ihres Heimatlandes ist Michelle Bachelet heute Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen.

 

 

 

Gedenktafel für Richard Zuelzer in der Friedrich-Ebert-Straße 37

Nr. 23

 

Friedrich-Ebert-Straße 37
Unsichtbare und sichtbare Gefahren

 

Richard Zuelzer kam am 21. September 1871 in Berlin zur Welt und wuchs in einer klassischen Ärztefamilie auf. Der aus Breslau stammende Vater Wilhelm übte zeitweise eine leitende Funktion in der Pockenabteilung der Charité aus und dozierte gleichzeitig an der Berliner Universität. Sein Bruder Georg Ludwig spezialisierte sich auf die Behandlung von Diabetes. Und sein Neffe Wolf William etablierte sich als angesehener Kinderarzt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Für Richard hingegen wurde Potsdam zum Lebensmittelpunkt, wo er – in der ehemaligen Spandauer Straße – im Jahr 1909 eine orthopädische Praxis samt eigener Turnhalle eröffnete. Als prägend sollte sich retrospektiv betrachtet sein Aufenthalt in Würzburg erweisen, wohin es den jungen Assistenzarzt 1898 zur weiteren Ausbildung verschlagen hatte. Denn dort gelangte er in den Dunstkreis von Wilhelm Conrad Röntgen, dessen Versuche und Entdeckungen das Feld der medizinischen Diagnostik an der Wende zum 20. Jahrhundert grundlegend revolutionierten. Zuelzer zeigte sich begeistert von den innovativen Möglichkeiten, führte damit Versuche am eigenen Körper durch und erprobte die Einsetzbarkeit der neuartigen technischen Methode für den täglichen medizinischen Gebrauch. Dieser Pioniergeist zollte angesichts der damals noch nicht im umfänglichen Ausmaß bekannten Gefahren der Röntgenstrahlen einen hohen körperlichen Tribut. Nachdem sich 1925 erste Verbrennungen an den Händen offenbart hatten, waren von da an die letzten zweieinhalb Jahrzehnte seines Daseins gepflastert mit notwendigen operativen Eingriffen: Beginnend mit der Entfernung eines Fingers (1930) erfolgte die Abnahme von Teilen seiner rechten Hand (1942) sowie die Amputation seines rechten Arms (1948). Schlussendlich verstarb Zuelzer am 19. September 1950 an den Folgen einer Handoperation linkerseits. Zu diesem Zeitpunkt lebte der Arzt schon lange nicht mehr in Potsdam. Trotz der verbrieften deutschen Staatsbürgerschaft litt die Familie aufgrund ihrer jüdischen Abstammung unter der Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik im Dritten Reich. Teile des Privatvermögens wurden eingefroren, 1938 musste zwangsweise das Haus deutlich unter Wert verkauft werden, darüber hinaus machte im gleichen Jahr das NS-Regime mit der Reichsfluchtsteuer bei der forcierten Emigration erneut Kasse. Zusammen mit seiner Frau und Tochter ging Richard Zuelzer nach London und kehrte nie wieder in seine Heimat zurück.

 

 

 

 

Gedenktafel für Käthe Pietschker am Werner-Alfred-Bad, Foto: Marc Banditt

Nr. 22


Hegelallee 23
Geteiltes Herz


Ein nüchterner Blick auf den Stammbaum von Käthe Marie Auguste Pietschker (1861–1949) erweckt den Anschein einer Biografie, die gezeichnet war von vielen Momenten der Trauer und des Abschieds. Noch nicht einmal vierjährig verlor sie ihre Mutter Mathilde. Der Vater – kein Geringerer als Werner von Siemens – starb 1892 an den Folgen einer Lungenentzündung. Acht Jahre später verschied seine Frau aus zweiter Ehe Antonie Siemens mit 60 Jahren. Das gleiche Alter erreichte auch Käthes Ehemann, der Pfarrer Carl Pietschker, der 1906 seine letzte Ruhestätte auf dem Bornstedter Friedhof erhielt. Am 15. November 1911 verunglückte der älteste Sohn Werner Alfred tödlich während eines Probeflugs – wenige Wochen zuvor hatte er noch mehrere Bestmarken in der Luft aufgestellt. Nur einen Monat nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, fand hingegen der jüngste Sohn Arnold Pietschker sein Ende auf den Schlachtfeldern in Frankreich. Käthes Brüder Arnold und Georg Wilhelm von Siemens verstarben in den Jahren 1918/19. Nicht zuletzt überlebte sie ebenso ihre Halbgeschwister Hertha Viktoria Ottilie und Carl Friedrich von Siemens, die 1939 bzw. 1941 aus dem Leben gingen.
Doch wie so häufig verbirgt sich hinter unbarmherzigen Zahlen ein menschliches Schicksal, über das weitaus mehr Geschichten zu erzählen sind. Diese handeln im vorliegenden Falle von großzügiger Stiftungsgabe und sozialer Fürsorge. Zugegeben, Geld spielte in ihrer Familie höchstwahrscheinlich keine Rolle. Dennoch bedarf es der überzeugten Besinnung, dieses zweckdienlich einzusetzen. Das von Kaiserin Auguste initiierte Kinderheim in Potsdam profitierte somit zum einen von den finanziellen Aufwendungen für Spielzeug, Kleidung und Nahrungsmittel aus der Hand der Gönnerin, zum anderen von ihrer langjährigen Tätigkeit im Vorstand der Stiftung. Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die Gründung einer Volksbücherbücherei in Bornstedt sowie die Einrichtung eines Genesungsheims für Kriegsverletzte. Und natürlich bleibt der Name Käthe Pietschker in Potsdam bis heute verbunden mit dem 1913 eröffneten Werner-Alfred-Bad. Die nach ihrem ältesten Sohn benannte Schwimmhalle mit dem ursprünglich markanten ovalen Becken besitzt zwar nach der 1992 erfolgten Schließung und umfassenden Erneuerung fast nichts mehr von ihrem historischen Interieur. Gegen die heutige Nutzung hätte die Stifterin aber sicherlich nichts einzuwenden.

 

 

 

 

Plan des Modellforts in Sanssouci, Foto: Marc Banditt

Nr. 21

 

Hopfengarten im Park Sanssouci (nahe Drachenhaustor)

Spielplatz geschlossen!

 

Durchaus geläufig ist dem ortsansässigen Volksmund noch die Kennzeichnung „Prinzenspielplatz“. Dass sich rund um diesen Ort der eine oder andere royale Sprössling spielerisch vergnügte, mag auch nicht zu bestreiten sein, denn im sogenannten Hopfengarten – nordöstlich vom Neuen Palais gelegen – befanden sich schließlich die Privatgärten der kaiserlichen Familie. Die Hohenzollern erwarben dieses Stück Land erst in den 1820er-Jahren, das dann nach und nach gestalterisch mit dem Park Sanssouci verschmolz. Allerdings hatte die dort 1893 erbaute Anlage einen weniger munteren Hintergrund: Die voranschreitende Industrialisierung ließ natürlich die Waffenentwicklung nicht außen vor, sodass die Durchschlagskraft der Kampfmittel stetig anwuchs. Weil die alten Festungsgemäuer der neuen Technik immer weniger Stand halten konnten, bedurfte es neue Wege im Bereich der Fortifikation. Nur wenige Jahre nachdem der junge Wilhelm II. seine Regentschaft angetreten hatte, erließ er die Order zur Modernisierung aller Festungsanlagen. Sein alter Erzieher, Oberstleutnant a. D. Julius Diener, war mittlerweile Abteilungsleiter für Festungsbau in der Firma Krupp und übernahm prompt die Bauleitung im Garten des Kaisers. So konnte nach nur wenigen Monaten der deutsche Unternehmensgigant die Miniaturanlage (im Maßstab 1:10) als fertigen Prototypen präsentieren. Das Modell-Fort, das sich in Form eines Dreiecks (ein Zentralwerk und zwei Anschlussbatterien) über die Ausmaße von ca. 40 m in der Länge und ca. 15 m in der Tiefe erstreckte, verfügte über insgesamt 20 Feuerstellungen mit darin installierten gepanzerten Geschützen. Da sich dieser Befestigungstypus als prägend für das darauffolgende Jahrhundert erweisen sollte, beschreibt es aus militärhistorischer Sicht ein durchaus beachtliches Baudenkmal. Im Jahre 2004 wurde es gleichwohl zur Konservierung mit einer Erdschicht überdeckt. Dem vorangegangen waren Jahrzehnte des wehrlosen Zustandes – gegenüber vandalistischen Umtrieben, der Witterung und spielenden Kindern.

 

 

 

 

Gedenktafel mam Marquisat, Foto: Marc Banditt

Woche 20

 

Neustädter Havelbucht

Ein Trauerspiel in Potsdam

 

„Hier meine Tochter? Hier in diesem elenden Wirtshause?“ Als hätte Sir William Sampson gewusst, dass das sich anschließende Ränkespiel in dem englischen Gasthof keinen guten Ausgang für seine Sara bereithalten wird. Das erste bürgerliche Trauerspiel der neueren deutschen Literatur stammte aus der Feder von Gotthold Ephraim Lessing und wurde am 10. Juli 1755 in Frankfurt an der Oder uraufgeführt. Entstanden ist es jedoch hier, etwa an dieser Stelle. Anders als andere Zeitgenossen hatte der berühmte Dichter seinen Aufenthalt in Potsdam behutsam geheim gehalten. Als kreativer Rückzugsort diente ihm das Marquisat, ein Anwesen, das im Besitz von Jean-Baptiste de Boyer (besser bekannt als der Marquis d’Argens) gewesen war, der schon seinem Landsmann Voltaire wenige Jahre zuvor Unterschlupf gewährt hatte. Als Lessing mit gepackten Koffern vor der Haustür stand, war es vom Namensgeber bereits wieder veräußert worden. Dennoch, das Landhaus – damals noch vor den Toren der Stadt befindlich – bot mit der Aussicht auf die Havelbucht sicherlich die notwendige Abgeschiedenheit, um innerhalb von knapp zwei Monaten das Drama über das Schicksal einer jungen Frau abzuliefern, die der Eifersucht ihrer Rivalin erliegt. Das Marquisat selbst durchlebte im Nachhinein ebenso launenhafte Episoden, geprägt von vielen Eigentümerwechseln und Grundstücksteilungen, bis der endgültige Abriss 1978 erfolgte. Welchen Vers Lessing wohl dazu gesetzt hätte? Vielleicht diesen hier: „Es wäre wenig in der Welt unternommen worden, wenn man nur immer auf den Ausgang gesehen hätte.“

 

 

 

Kaak an der Gerichtslaube, Foto: Marc Banditt

Woche 19

 

Lennéhöhe im Park Babelsberg
Recyceltes Rathaus


Es sieht so aus, als wäre er schon etwas in die Jahre gekommen, der mit einem hämischen Grinsen und Eselsohren ausgestattete Vogel an der südwestlichen Fassade. Es ist der Kaak, ein Symbol für Schimpf und Schande aller derjenigen, die nicht nur gewissermaßen am Pranger stehen. Und tatsächlich führen die Spuren des quadratischen Backsteingebäudes weit zurück in die Vergangenheit, genauer gesagt bis in das 13. Jahrhundert. Im damals noch jungen Berlin wurde die Gerichtslaube als Teilanbau des Alten Rathauses im Nikolaiviertel errichtet und manifestierte lokale Selbstverwaltung und öffentliche Rechtsprechung in dem noch kleinen mittelalterlichen Städtchen. Das zu den ältesten Profanbauten Deutschlands gehörende Gebäude diente – nach zwischenzeitlicher Barockisierung – bis in das 19. Jahrhundert hinein. Im Laufe eines guten halben Jahrtausends hatte nun Berlin um einiges zugelegt, weshalb die Rufe nach einem neuen, der dynamischen Hauptstadt würdigen, Gemeindesitzes lauter wurden. Im Zuge der Bauarbeiten am 1871 fertiggestellten Roten Rathaus erfolgte schrittweise der Abriss des Vorgängers, was auch der dazugehörigen Gerichtslaube drohte. Doch es regte sich Protest dagegen, mitunter in Gestalt des sich eigens formierenden Vereins für die Geschichte Berlins. Im Ergebnis erhielt die Laube kein Geringerer als der damalige Kaiser zum Geschenk, der diese auf der Lennéhöhe im Babelsberger Park wieder aufbauen ließ. Seit 1987 beherbergt das Nikolaiviertel in Berlin wieder eine eigene Gerichtslaube: Ein gemütliches Restaurant, an dessen Außenwand – natürlich – der Kaak auf die Gäste herabblickt.

 

 

 

Bahnhof Pirschheide, Foto: Marc Banditt

Woche 18

 

An der Pirschheide

Der nächste Halt ist…

 

Die holprigen Treppenstufen nach unten führen geradewegs zu einem leidenschaftslos zugemauerten Durchgang, entlang der bröckelnden Fugen der Bodenpflasterung bahnt sich die Natur langsam aber stetig ihren Weg zurück, die Außenflächen auf dem noch nicht stillgelegten Bahnsteig präsentieren ein buntes Spektrum gängiger Ausdrucksformen rudimentärer Graffitikunst. Auf dem Vorplatz haben sich eben zwei verlorene Seelen verirrt, sehnsuchtsvoll auf die Straßenbahn Nr. 91 wartend, die nach ihrer Rundfahrt durch die halbe Stadt jedoch erst einmal eine wohlverdiente Ruhepause einlegt. Die Einladung, sich die Wartezeit mit einem Hamburger und einer Coca-Cola am Imbiss zu verkürzen, ist nett gemeint – nur leider hätte man dafür das eine oder andere Jahrzehnt früher vor Ort sein müssen. Kaum vorstellbar, dass hier einst weit über hundert Züge auf sechs Gleisen täglich ein- und ausfuhren. Der „Bahnhof Potsdam Süd“ wurde 1958 eingeweiht und verdankte seine Daseinsberechtigung nicht unwesentlich der Teilung Berlins. Als drei Jahre darauf der politische Status quo mit dem Mauerbau in Zement gegossen wurde, erfolgte die Umfunktionierung des Standortes am Berliner Außenring zum Potsdamer Hauptbahnhof, stark frequentiert und durchgängig belebt. Mit der Öffnung der Grenzen und der Wiederaufnahme des direkten Zugverkehrs ändert sich die Weichenstellung in der brandenburgischen Landeshauptstadt ebenso grundlegend wie rapide. Ab 1993 firmiert der Halt unter dem Namen „Potsdam Pirschheide“, wo seitdem ein Licht nach dem anderen ausgegangen ist. Immerhin, seit wenigen Jahren steppt in der ehemaligen Eingangs- und Wartehalle regelmäßig der Bär, wenn nicht gerade Corona wär. Und auch die Eröffnung des Berliner Großflughafens lässt auf einen strukturellen Aufschwung hoffen. Noch ist hier also nicht Endstation…

 

Brauhausberg, Foto: Marc Banditt

Woche 17

 

Am Havelblick 6
Das sind ja schöne Aussichten

 

Welche Bedeutung der Brauhausberg einnahm, lässt sich mühelos dem Wortstamm der Ortsbezeichnung entlehnen: Wurden bis 1700 auf den Hängen des kurfürstlichen Weinbergs noch edle Trauben geerntet, erfolgte mit der Errichtung des Königlichen Brauhauses (1716) der Wechsel zum kühlen Gerstensaft. Die voranschreitende Bebauung des dritthöchsten Potsdamer Berges beförderte in der Folge nicht nur die Produktions- und Transportmöglichkeiten des Genussmittels, sondern auch dessen Ausschank. Nicht wenige beliebte Lokalitäten (auch Tanz- und Kinostätten) haben sich dort im Laufe der Zeit angesiedelt, mitunter das – seinerseits in die Jahre gekommene und baufällige – Terrassenrestaurant Minsk, eröffnet im Jahr 1977. Die Erfolgsformel „Teller mit Aussicht“ bewährte sich somit rund anderthalb Jahrhunderte. Denn was heute ein wenig aus dem buchstäblichen Blickwinkel geraten ist, ist die Tatsache, dass von den Höhenzügen dieses Berges ein hervorragendes Panorama von der Stadt geboten wird. Sei es aus Sicht der im „Kreml“ residierenden Genossen zu DDR-Zeiten, für Schaulustige auf dem Turm des von 1804 bis 1955 existierenden neugotischen Belvederes oder aus der Perspektive zahlreicher Maler, die die Havelresidenz insbesondere im 18. Jahrhundert als Gesamtwerk porträtierten: Dem sich darbietenden Bild konnte man sich nur schwerlich entziehen. Mittlerweile ist es deutlich schwieriger geworden, auf dem Brauhausberg eine Stelle zu finden, die eine ähnliche formidable Rundschau offenbart. Jedoch, das eine oder andere pittoreske Kleinod ist noch erhalten geblieben, so wie der „Kaiser-Friedrich-Blick“. Also: Wer ein paar Höhenmeter zu Fuß auf sich nimmt, wird auf majestätische Weise belohnt.

 

 

 

Eisenhart-Denkmal, Foto: Marc Banditt

Woche 16

 

Ecke Eisenhartstraße / Behlertstraße
Ein Anwalt für Potsdam

 

Eigentlich hätte es ganz anders kommen sollen. August Friedrich Eisenhart, geboren am 29. August 1773 in der Berliner Straße Nr. 3, war auf dem besten Weg, eine klassische akademische Bildungslaufbahn einzuschlagen. Für den Absolventen der Grande Ecole in Potsdam war im Grunde der Antritt eines Studiums der Rechtswissenschaften vorgesehen. Doch als wäre der Tod seines älteren Bruders nicht schon allein ein schwerer Schicksalsschlag gewesen, musste August Friedrich damit auch seine Hoffnungen auf den Gang an die Universität begraben. Denn sein Vater übertrug nun ihm die Übernahme des familieneigenen Kolonialwarengeschäfts. In der Folge zeige sich aber, dass der Jungunternehmer ein enormes betriebswirtschaftliches Geschick an den Tag legte; zudem hatte er das notwendige Glück bei nicht ganz risikolosen Aktiengeschäften. Summa summarum gelangte August Friedrich Eisenhart zeitlebens zu einem stattlichen Vermögen. Es war aber nicht seine prall gefüllte Brieftasche, mit der er sich ein Denkmal geschaffen hatte, sondern die Tatsache, diese für gemeinnützige und wohltätige Zwecke regelmäßig zu öffnen. Bereits zu Lebzeiten ließ er dem Türkschen Waisenhaus in Klein Glienicke Unterstützung zukommen und eine Heilanstalt in der heutigen Belehrtstraße errichten. Auch der Bau der Trauerhalle auf dem Alten Potsdamer Friedhof ging auf eine generöse Spende von ihm zurück. In der Nähe davon befindet sich die Gruft der Familie Eisenhart. August Friedrich verstarb am 13. März 1846 – nicht ohne der Stadt die Hälfte seines Vermögens (193.000 Taler) zu hinterlassen. Drei Jahre später war er (posthum) Potsdams erster Bürger, nach welchem eine Straße benannt wurde. Das ihm zu Ehren ursprünglich vor seinem Geburtshaus aufgestellte Monument bekam – nachdem es im Zweiten Krieg eingeschmolzen worden war – als Kopie aus Sandstein einen neuen Standort, nicht weit entfernt von einer 1883/84 eröffneten Mädchenschule. Jene Schule, die aus seinem Nachlass finanziert wurde und seinen Namen trägt. Eigentlich ganz gut so, dass nicht alles nach Plan verlaufen ist.

 

 

 

 

Gedenktafel am Haus 7 der Stadtverwaltung Potsdam, Foto: Marc Banditt

Woche 15

 

Hegelallee 6-10, Haus 7
Draußen vor dem Tor

 

Bescheiden. Verhalten. Unscheinbar. Man muss schon sehr nahe herantreten, um zu registrieren, dass diese Tafel und deren Inschrift einen bedeutenden Vorgang der jüngeren Zeitgeschichte dokumentieren. In etwa so nahe, wie jene Menschen, die im Spätherbst 1989 auf die Straße gingen und ihre Protestzüge zumeist vor der Bezirkszentrale der DDR-Staatssicherheit beendeten. Denn auch nachdem der Schlagbaum auf der Glienicker Brücke geöffnet worden war, blieb das Eisentor in der Hegelallee fest verschlossen. Noch. Seit die Ereignisse in der Nacht vom 9./10. November klargemacht hatten, dass sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen lässt, blieb es doch zunächst unklar, in welche Richtung es steuern würde. Zeiten des Übergangs. Während die einen um die Gestaltung der Zukunft ringen, beginnen die anderen, die Spuren der Vergangenheit zu verwischen. Anfang Dezember häuften sich die Meldungen, der Geheimdienst vernichte en masse belastendes Material. Wie vielerorts folgten auch Potsdamerinnen und Potsdamer dem Aufruf des Neuen Forums zur Besetzung und Kontrolle der Behördensitze. Kein ungefährliches Vorhaben. Schließlich wussten die am 5. Dezember 1989 genau an dieser Stelle Stehenden nicht, was und wer sie hinter dem Tor erwarten würde als sie Zugang zu jenem Ort erhielten, der eine Aura des Unbekannten und Bedrohlichen versprühte. Sichergestellt wurden am Ende neben einem beträchtlichen Waffenarsenal rund 1.000 Meter (50 Tonnen) laufende Akten. Das Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit: Aufzeichnungen, Informationen, Profile – sorgfältig erstellt und systematisch geordnet. Eine Art von Schattenbiografien, die ungebetene Autoren ungefragt über unzählige Menschen (jede sechste im Bezirk Potsdam lebende Person) vorgefertigt hatten. Dies forderte Aufklärung. Mutig. Entschlossen. Sichtbar.

 

 

 

 

Skulpturengruppe von Friedrich von Boumann, Foto: Marc Banditt

Woche 14

 

Friedrich-Klausing-Straße 5

Ein Ort, wo aus Kasernen Schlösser werden


Die Jahreszahl auf der barocken Skulptur und das vergoldete Monogramm darüber lassen darauf schließen, dass Friedrich II. hier irgendwie seine königlichen Finger im Spiel hatte. Die rote Klinkerfassade des Gebäudes weist hingegen eher auf einen wilhelminischen Bau im Stil der roten Backsteingotik hin. Aber das lichtdurchflutete Atrium im Innenhof mit seinen extra gepflanzten Palmen unter dem Glasdach verheißt modernes, südliches Flair. Ist jemand nicht mitgekommen? Also jetzt mal der Reihe nach: Die von Friedrich II. eigentlich in Potsdam neu aufgestellten Garde-Feldartillerie-Regimenter wurden ab 1773 am Berliner Kupfergraben untergebracht. Das dortige Gebäude zierte die wuchtige Attika aus Sandstein, geschaffen von Georg Friedrich von Boumann. Aus Gründen der Baufälligkeit wurde über 100 Jahre später jedoch ein neuer Standort für die Stationierung der Einheiten gesucht. Die Wahl fiel schließlich auf den noch weitgehend unbebauten Norden Potsdams und so erhielt der Architekt Robert Klingelhöffer im Jahr 1891 einen entsprechenden Bauauftrag. In der Folge entstand an der heutigen Nedlitzer Straße der damals größte und modernste Kasernenkomplex der märkischen Residenzstadt, bei dem die einzelnen Funktionsbereiche in räumlich voneinander getrennten Bauten untergebracht waren. Der Umzug begann 1893. Als Erinnerungsstück befand sich im Gepäck der Regimenter auch die Skulpturengruppe mit dem kleinen Obelisken. Diese wurde als Mittelrisalit auf dem zentral gelegenen Montierungskammergebäude verbaut, das faktisch als Zeughaus fungierte. Die „Rote Kaserne“ beherbergte im Laufe der Zeit nicht nur die kaiserlichen Truppen, sondern nachfolgend Einheiten der Reichswehr, der Wehrmacht und der sowjetischen Streitkräfte. Nach exakt einem Jahrhundert – in den Jahren 1993/94 – endete mit dem Abzug der Besatzungsmacht dann die militärische Nutzung des Standortes. Für einen Teil der 1999 unter Denkmalschutz aufgenommenen Gebäude sah der städtische Bebauungsplan die Schaffung von Wohneinheiten vor. Aufwendig saniert ist das gesamte Quartier mittlerweile fest verankert in der Nauener Vorstadt. Die atmosphärische Transformation schlug sich auch sprachlich nieder: Aus der Kleiderkammer ist das Chateau Palmeraie geworden.

 

 

 

 

Gedenktafel für Hening und Erika von Tresckow, Foto: Marc Banditt

Woche 13

 

Lindstedter Chaussee 1
In der zweiten Reihe

 

Beinahe hätten wir es übersehen. Doch am linken oberen Bildrand einer gebräuchlichen Übersichtskarte für den Park Sanssouci ist noch ein Gebäude abgebildet, das zwar etwas abseits der Gesamtanlage gelegen ist, dennoch in den Genuss kommt, die Bezeichnung „Schloss“ für sich zu beanspruchen. Die Rede ist von Lindstedt, ein villenartiger Bau antiker Prägung mit einem mondänen Garten, der einen Ausflug zum Lustwandeln allemal lohnt. 1828 wurde es von Kronprinz Friedrich Wilhelm (ab 1840 König Friedrich Wilhelm IV.) gekauft und – nach einigen Verzögerungen – ab 1858 in der heutigen Gestalt umgebaut. Auch weil der Regent noch vor der Fertigstellung verstorben war und sich somit nicht mehr an seinem Sommersitz erfreuen konnte, zählt Lindstedt nicht zur ersten Garde der preußischen Schlösser. Es ruht vielmehr im Schatten größerer Bekanntheiten.
Ein ähnlich lautendes Urteil ließe sich ebenso über eine frühere Bewohnerin des Hauses fällen. Erika von Falkenhayns Vater hatte am Ende des 19. Jahrhunderts das kleine Schloss gepachtet, worin die Familie bis 1945 wohnhaft blieb. Deren Oberhaupt, Erich von Falkenhayn, durchlief die Militärlaufbahn in Preußen, verdingte sich unter anderem als Militärberater in China, um danach im Kaiserreich eine Beförderung nach der anderen mitzunehmen. Als preußischer Kriegsminister und Chef des Generalstabes war Falkenhayn schließlich eine Schlüsselfigur des Ersten Weltkrieges, bevor er 1922 im Schloss Lindstedt verstarb. Vier Jahre darauf heiratete seine Tochter in der Bornstedter Kirche mit dem späteren Generalmajor und Widerstandskämpfer Henning von Tresckow wiederum eine der bekanntesten deutschen Persönlichkeiten, die im Laufe des Zweiten Weltkrieges eine Rolle spielten.
Erika von Tresckow starb 1974. Während ihr Vater und ihr Mann bis heute im kollektiven historischen Gedächtnis fest verankert sind, ist über ihr Leben und Schicksal erstaunlich wenig bekannt. Als hätte man auch sie übersehen.

 

 

 

Gedenktafel für Günther Brandt, Foto: Marc Banditt

Woche 12

 

Burgstraße 32
Aktenzeichen: M.31.2/1867

 

Anno 1941: Der schwer am Kopf verletzte Soldat Günther Brandt wird von den Kämpfen an der Ostfront nach Berlin-Tempelhof ins Lazarett gebracht. Nicht weniger als drei Jahre währt am Ende die Phase der Rekonvaleszenz, in der der Verletzte kaum fähig ist, zu sprechen. Wieder genesen kehrt Brandt zurück nach Potsdam, an jenen Ort, wo er 1939 kurz nach seiner Ordination als Pfarrer der Heilig-Geist-Gemeinde eingesetzt worden ist, bevor ihn der Einzugsbefehl von der Wehrmacht erreicht. 1944 erfolgt für den „heimatverwendungsfähigen“ Mann der Kirche die Ernennung zum „Gräberoffizier“. Dem WGO obliegt nun die Aufgabe, jene Grabstätten zu registrieren, in denen feindliche Soldaten auf deutschem Boden ihre letzte Ruhestätte erhalten. Zusätzlich soll er ausgebombte und vor den Kriegshandlungen fliehende Personen mit Lebensmittelkarten, Papieren und Wohnungen ausstatten. Was die Kommandantur mit dieser Order nicht im Sinn hatte: Fortwährend nutzt der Geistliche seine Stellung und Zugangsmöglichkeiten, um jüdischen Mitbürgern zu helfen, die im vorletzten Kriegsjahr noch illegal in der Stadt wohnten. Brandt stellt gefälschte Beglaubigungen aus, warnt gefährdete Menschen vor polizeilichen Hausdurchsuchungen, bietet zusammen mit seiner Frau Schutz Suchenden ein Obdach und nimmt ein junges Mädchen als Hausgehilfin auf, um sie vor der Verfolgung zu retten. Nach dem Krieg engagiert er sich als Studentenpfarrer in Potsdam, gerät aber bald in den Fokus der Staatssicherheit. Nur wenige Wochen vor dem Volksaufstand 1953 wird Brandt in die Untersuchungshaftanstalt in der Lindenstraße eingewiesen. Nach seiner Freilassung kehrt er der DDR Richtung West-Berlin den Rücken.

Günther Brandt lebte vom 24. März 1912 bis zum 7. Mai 1986. Er gehört seit 1980 zu den „Gerechten unter den Völkern“, eine Auszeichnung, die bis heute nur etwas mehr als 600 Deutschen zuteilwurde. Die Gedenkstätte Yad Vashem listet ihn unter der oben aufgeführten Nummer – eine Chiffre, hinter der jedoch viele weitere Schicksale stehen.

 

 

 

Gedenkstein für Kaiser Wilhelm I., Foto: Marc Banditt

Woche 11

 

Werdersteig im Wildpark
Auf der Fährte des Kaisers

 

Die Flut der ihm zu Ehren in Stein gehauenen Devotionalien ist unverkennbar mit einem Ereignis verkettet, das 150 Jahre zurückliegt: Kaiser Wilhelm I. stand an der Spitze des 1871 gegründeten Deutschen Reiches, weshalb in den darauf folgenden Dekaden zahlreiche Denkmäler, Reiterstandbilder, Kaiser-Wilhelm-Türme, Wilhelmsburgen usw. errichtet worden sind, zum Teil sogar in überdimensionaler Ausführung. Man denke hierbei etwa an das Kyffhäuserdenkmal, an das Deutsche Eck in Koblenz, an Porta Westfalica oder an die Schloßfreiheit in Berlin. Summa summarum sollen einst insgesamt über 400 Monumente existiert haben, die dem Staatsoberhaupt direkt gewidmet waren; Konkurrenz in dieser Sparte macht ihm hierzulande nur „sein“ tonangebender Kanzler Otto von Bismarck. Entsprechende Würdigungen für den Monarchen im öffentlichen Raum durften freilich in Potsdam ebenso nicht fehlen. So war er hoch zu Ross sitzend seit 1901 für alle sichtbar, die die Lange Brücke passierten, welche von diesem Jahr an bis 1935 seinen Namen trug. Der 1797 geborene Wilhelm erlebte als Kind die verheerenden Niederlagen Preußens gegen Napoleon und den frühen Tod seiner berühmten Mutter Luise. Verspottet als „Kartätschenprinz“ musste er im Zuge der Märzrevolution ins Exil nach London gehen. Zehn Jahre später übernahm er faktisch die Regierungsgeschäfte für seinen erkrankten Bruder. Die Annahme des Titels „Deutscher Kaiser“ widerstrebte ihm zutiefst. Daneben wurde er zur Zielscheibe von einem halben Dutzend versuchter politischer Attentate. Bis heute bleibt seine Rolle als personifizierter Innbegriff des reaktionären Preußens umstritten. Aus dem Potsdamer Stadtbild sind jedenfalls die Spuren des Gedenkens an Wilhelm I. (inklusive der Reiterstatue) nach dem politischen Umbruch von 1945 weitgehend getilgt worden. Fernab der Innenstadt ist jedoch eine bescheidene Erinnerungsstätte geblieben, in der sich gleichsam Tradition und Habitus der preußischen Regentschaft widerspiegeln. Denn die Pirschheide, wo 1842 die Arbeiten zur Anlegung eines königlichen Wildparks begannen, blieb bis zum Ende der Monarchie ein beliebtes Jagdrevier der Herrscher aus dem Haus der Hohenzollern – und die weißen Paarhufer dabei eine begehrte Beute. Auch für den damals 87-jährigen Deutschen Kaiser Wilhelm I.

 

 

Tafel für Hans Grodotzki am Olympischen Weg

Woche 10

 

„Walk of Fame“ am Olympischen Weg

Zweiter auf der Bahn in Rom – Erster auf dem Boulevard in Potsdam

 

Das Stadio Olimpico in Rom am 2. September 1960, kurz nach 17.00 Uhr: Die Athleten auf der Bahn wähnen sich bereit, gleich den Sieger über 5.000 Meter (Herren) bei den Olympischen Sommerspielen zu ermitteln. In dem zwölfköpfigen Feld befinden sich auch drei Deutsche, die allesamt ihre Vorläufe für sich entscheiden konnten. Das geteilte Land ging damals zum vorletzten Mal mit einer gemeinsamen Mannschaft an den Start, als Hymne für alle erklang dabei „Freude schöner Götterfunken“ aus dem finalen Satz der 9. Symphonie Beethovens. Eine gute Viertelstunde später sind die Läufer noch eng bei einander, bevor Murray Halberg drei Runden vor Schluss entscheidend das Tempo verschärft und den anderen davoneilt. Zu den ärgsten Verfolgern des an der Spitze liegenden Neuseeländers gehört Hans Grodotzki mit der Startnummer 277. Der passionierte Fußballer kam 1958 nach Potsdam und drehte hier auf dem Gelände des Luftschiffhafens seine Trainingsrunden. Schritt um Schritt kommt Grodotzki auf den letzten 400 Metern an den Führenden heran. Für den späteren Sportoffizier sollte es die erste und – verletzungsbedingt – letzte Teilnahme an einer Olympiade sein. Schließlich kann Murray seinen schmelzenden Vorsprung über die Ziellinie retten, Grodotzki wird mit knapp 1 ¼ Sekunden Verzug Zweiter. Sechs Tage darauf sehen sich beide wieder, dieses Mal über die doppelte Distanz. Am Ende hat Murray über zehn Sekunden Rückstand auf den Deutschen, der jedoch Pjotr Bolotnikow aus der Sowjetunion bei der Siegerehrung den Vortritt auf das oberste Treppchen lassen muss. Hans Grodotzki landet erneut auf dem zweiten Platz, gewinnt Silber und bricht mit 28:37,0 Minuten (ein weiteres Mal) den Deutschen Rekord. Bis heute bleibt dies die einzige olympische Medaille, die Deutschlands LäuferInnen über die Strecke von 10.000 Metern mit nach Hause gebracht haben. Sehr geehrter Herr Grodotzki, wir gratulieren Ihnen – doppelt und aus aktuellem Anlass!

 

 

 

Gedenktafel für Adolf Damaschke, Foto: Marc Banditt

Woche 9

 

Ecke Heinrich-Mann-Allee / Waldstraße

Mit Grund und Boden

 

Wenn man über eine bekannte Suchmaschine im Internet den Begriff „Bodenreform“ eingibt, dann verweisen acht der ersten zehn Ergebnisse auf die Geschichte der SBZ/DDR. Schnell kommen uns Wörter wie Enteignung, Zwangskollektivierung oder Rückübertragung in den Sinn und es hat den Anschein, als wäre der Suchbegriff nicht ganz zu Unrecht mit negativen Assoziationen aufgeladen. Dabei gerät etwas aus dem Blick, dass die Idee freilich schon länger existiert und früher diskutiert worden ist. An der Spitze dieser am Ausgang des 19. Jahrhunderts aufkommenden Bewegung stand Adolf Damaschke. Groß geworden im Berliner Mietskasernenmilieu war sein Leben geprägt vom Aufbegehren gegen die sozialen Mißstände der Zeit. Als Vorsitzender des Bundes Deutscher Bodenreformer hatte er unter anderem maßgeblichen Anteil an der Gründung der „Siedlung Eigenheim“ zu Beginn der 1920er-Jahre in der Teltower Vorstadt. Den einfachen Leuten wollte man hier die Möglichkeit geben, die eigenen vier Wände auf einem relativ günstig erworbenen Grundstück hochzuziehen. Die Stadt hatte dazu ein rund 40 ha großes Areal am Rande des kleines Ravensberges von den Forstbetrieben gekauft und direkt an den Bund weiterveräußert, der die 273 Parzellen an die glücklichen Antragssteller per Losverfahren verteilte. Nicht nur die Häuser entstanden in Eigenleistung, auch die Errichtung der Wasser- und Stromleitungen nahmen die „Kolonisten“ selbst in die Hand. Die rund 1.300 m² großen einzelnen Liegenschaften erlaubten den Anbau von Obst und Gemüse sowie die Haltung von Kleinvieh, zudem fanden vormals mehrere Geschäfte und Einrichtungen des täglichen Bedarfs in den Wohnhäusern Platz. Die am Eingang der einst quasi autarken Siedlung stehende Linde soll der Wegbereiter zuerst selbst gepflanzt haben. Und auch die Bank gleich daneben, die an seinen 60. Geburtstag erinnert, weihte Damaschke noch persönlich ein.

 

"Katzensäule", Foto: Marc Banditt

Woche 8

 

Ecke Bornstedter Straße / Voltaireweg

Bloß kein Katzenjammer

 

Kurz nach der Fertigstellung des Schlosses Sanssouci ließ Friedrich II. auf der davon nördlich gelegenen Anhöhe ein riesiges Rundbecken anlegen. Der königliche Bauherr hatte nämlich Gefallen an der erquickenden Vision gefunden, seinen Schlossgarten mit allerlei Wasserspielereien zu bereichern. Einige Jahrzehnte, viele Mühen und etliche tausend Taler später musste sich seine Majestät aber eingestehen, dass das Projekt gescheitert war. Nun hat der Ruinenberg seinen Namen nicht aufgrund dieses technischen Fiaskos erhalten, sondern wegen der künstlichen Ruinen rund um das Wasserreservoir, die einen Bezug zur Antike herstellen sollten. Solch eine architektonische Symbolik war im 18. Jahrhundert der letzte Schrei und auch der schönen Aussicht wegen lohnt es, den 74 m hohen „Gipfel“ zu besteigen. Vom Ehrenhof des Rokoko-Schlosses ist es nicht weit bis zu einer stets frequentierten Kreuzung, wo man nach links in die Bornstedter Straße abbiegt. Dem Verlauf der um 1842 angelegten Chaussee folgend, zwingt nach nur wenigen Metern den aufmerksamen Betrachter rechter Hand eine Lennésche Prägung zum Anhalten: Eine unscheinbare Säule mit korinthischem Kapitell, auf der ein goldener Pokal von drei Pantherköpfen gehalten wird. Die um 1850 errichtete „Katzensäule“ soll angeblich einst als Markierung jener Stelle gedient haben, wo Potsdams Verwaltungsbereich endete. Das mag einleuchtend klingen, aber welche ikonografische Bedeutung haben nun diese drei Wildkatzen – stehen sie sinnbildlich für Mut, für Kraft, für Macht oder für etwas ganz anderes? Tja, das ist ein ziemlich kniffliges Rätsel, wofür sich nicht ohne Weiteres eine handfeste Lösung finden lässt. So ähnlich muss sich auch der Alte Fritz gefühlt haben, als er hier an gleicher Stelle – auf den Ruinenberg schauend – stand und sich dabei sein königliches Haupt über seine Wasserleitungen zermarterte.

 

 

Gedenktafel für Emilie Winkelmann

Woche 7

 

Hermann-Maaß-Straße 18/20

Modernes Bauen


Ich suche für mich: eine kleine Wohnung (ein bis drei Zimmer wären ausreichend) mit Küchenzeile, Zentralheizung, einer beheizbaren Loggia, elektrischer Beleuchtung, Toilette – wenn möglich, gerne auch ein eigenes Badezimmer. Aus diesem Inserat würde noch heute der Wunsch nach einer geschmackvollen, attraktiven Herberge in Wohlfühlatmosphäre sprechen. Die Idee dahinter stammt aber aus einer Zeit, als der Kaiser noch das Zepter schwang und man Babelsberg noch als Nowawes kannte, welches an Potsdam grenzte. Noch einen guten Steinwurf davon entfernt – nämlich am Rande vom damaligen Neubabelsberg – war für das „Haus in der Sonne“ ein geeigneter Platz gefunden. Inspiriert vom gleichnamigen Roman des schwedischen Künstlers Carl Larsson aus dem Jahr 1909 entstand ein Gebäude mit insgesamt 14 Wohnungen für alleinstehende und ehemals berufstätige Frauen, die hier ihren Ruhestand genießen durften. Im Auftrag der „Genossenschaft für Frauenheimstätten“ arbeitete ab 1913 eine gewisse Emilie Winkelmann (1875–1951) die Entwürfe für den Bau aus. Geboren in Aken an der Elbe erlernte sie schon früh ihr Handwerk und verfeinerte dies durch Beschäftigungen in verschiedenen Architekturbüros. Mit einem scheinbar simplen, jedoch notwendigen Kniff erreichte die junge Frau 1902 die Zulassung zum Studium an der Technischen Hochschule in Hannover, indem sie ihr Gesuch lediglich mit „E. Winkelmann“ signierte. Vier Jahre darauf ließen die Herren in Preußen dann keine weitere Ausnahme zu: Der Zugang zum Staatsexamen blieb ihr verwehrt. Was folgte, war der Gang nach Berlin, wo sie schließlich ihr eigenes Büro eröffnete – als erste selbstständige Architektin Deutschlands. Es waren vor allem Villen und Landhäuser, mit denen Winkelmann ihren guten Ruf zementierte, nachdem sie das Fundament dafür mit einem gewonnenen Architekturwettbewerb 1907 in der Hauptstadt gelegt hatte. Später konnte sie aufgrund gesundheitlicher Probleme, einer für die Architektin unbefriedigenden Auftragslage und des aufkommenden Bauhausstils nicht mehr an ihre Erfolge anknüpfen. Ebenfalls mussten die Arbeiten am „Haus in der Sonne“ zwischenzeitlich ruhen. Ohne ihr Zutun ging es dort 1928 weiter – in dem selben Jahr als Emilie Winkelmann in den Bund Deutscher Architekten aufgenommen wurde.

 

 

Gedenktafel für Clara Hoffbauer, Foto: Marc Banditt

Woche 6

 

Inselkirche Hermannswerder

Warum eigentlich nicht Claraswerder?

 

Clara Ottilie Alexandrine Emilie Becker kam am 30. April 1830 zur Welt und wuchs mit ihren sieben Geschwistern in Berlin als Tochter eines Kommerzienrates auf. Dort lernte sie auch ihren späteren Ehemann kennen, der mit ihrem Bruder Emil 1856 in Berlin-Kreuzberg eine florierende Teppichfabrik gründete.Das Ehepaar führte ein finanziell sorgenfreies Leben, 1870 kauften beide ein Haus in Potsdam, in dem mitunter Theodor Fontane und Ernst von Bergmann verkehrten. Im Zeitalter der Industrialisierung verschärften sich aber auch sichtbar die sozialen Gegensätze im Land, vor der die selbst- und verantwortungsbewusste Frau nicht die Augen verschloss und die in ihr das Bedürfnis wachsen ließen, ihren Mitmenschen zu helfen. In diesem Sinne begründete ihr Mann im Jahr 1873 eine Kranken- und Unterstützungskasse für die Angestellten der Firma; außerdem setzte sich das kinderlose Ehepaar das Ziel, eine gemeinnützige Stiftung ins Leben zu rufen, die nach dem Ableben der beiden realisiert werden sollte. Der frühe Tod ihres Gatten 1884 führte jedoch zu einem Umdenken. Die junge Witwe erwarb in der Folge ein ca. 40 Hektar großes Areal südöstlich der Halbinsel Tornow, wo dann 1891 der erste Spatenstich gesetzt wurde zur Umsetzung des Stiftungsgedankens, elternlosen Mädchen eine Stätte für deren Erziehung und Bildung zu ermöglichen sowie die Pflege alter und kranker Menschen. 1901 erfolgte schließlich die offizielle Einweihung der vom evangelischen Glauben inspirierten Stiftung. Zu den ersten bis dahin errichteten Gebäuden kamen im Laufe der Zeit noch viele weitere hinzu, auch das 1911 eröffnete gotische Gotteshaus für die eigenständige Kirchengemeinde. Die Fertigstellung dieses Baus erlebte Clara Hoffbauer nicht mehr, sie war zwei Jahre zuvor verstorben. Noch zu Lebzeiten hatte sie die Stiftung mit einem beträchtlichen Vermögen ausgestattet und veranlasst, dass die Insel nach dem verstorbenen Gatten umbenannt wird – Hermannswerder. Das kleine Eiland am Templiner See hätte aber auch ihren Namen verdient gehabt.

 

 

Relief an der "Schauspielerkaserne", Foto: Marc Banditt

Woche 5

 

Posthofstraße 17

Kasernierte Künstler

 

„Potsdam ist ein angenehmer und schön gebauter Ort, aber man mag in eine Straße hinkommen, wo man will, so erscheint die ganze Stadt wie eine Caserne“.1  Der eine oder andere durchreisende Besucher konnte sich damals einen kleinen literarischen Seitenhieb auf die Schar der hier einquartierten Soldaten nicht verkneifen. Das alte Potsdam war nicht weniger Residenz als Garnison, es wurde zelebriert und exerziert. Etwas mehr Kunst für den gemeinen Bürger erhielt mit der Fertigstellung des Königlichen Schauspielhauses im Jahr 1795 Einzug; die klassizistische „Kanaloper“ an der heutigen Berliner Straße war von Friedrich Wilhelm II. gezielt als ein öffentliches Theater in Auftrag gegeben worden. Bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg fanden dort Darbietungen statt, der bekanntlich auch Friedrich Schiller während seines kurzen Aufenthaltes an der Havel einmal als Gast beiwohnte. Die Reste der Ruine trug man letztendlich erst 1966 ab. Existent ist dagegen noch das auf der Rückseite des Grundstücks angegliederte Logierhaus, das als Unterkunft für die Darsteller diente. Denn noch im ausgehenden 18. Jahrhundert nahm eine Kutschfahrt von Potsdam nach Berlin gefühlt einen halben Tag in Anspruch. Hinzu kam, dass die Vorstellungen in der Regel bis spät in den Abend andauerten und nicht selten tags darauf erneut aufgeführt wurden. Über dem Eingang der etwa 60 Zimmer umfassenden Herberge erinnert noch heute ein von Johann Gottfried Schadow konzipiertes Relief an die musisch begabten Gäste: Vor dem Altar Apollos stellen sich Szenen dar, die auf der einen Seite die Tragödie und auf der anderen Seite die Komödie erkennen lassen. Eine passende Betitelung des Hauses durch den Volksmund hat im Übrigen nicht lange auf sich warten lassen – es ist natürlich die „Schauspielerkaserne“…

 

 

1)  Freymüthige Bemerkungen über Hamburg, Berlin, Potsdam, Wien, Sondershausen und Gotha, etc. Auch etwas über Aufklärung und Arzneykunde, [o. O.] 1793, S. 127.

 

Peter Rohn: Adam und Eva, Foto: Marc Banditt

Woche 4

 

Zeppelinstraße 164 B

Ein Stück Paradies


Das Wort Paradies lässt Kenner der Potsdamer Historie natürlich schnell an Johann Moritz von Nassau-Siegen denken, der in den 1660er-Jahren eine poetische Vorstellung davon hatte, was aus dem märkischen „Eylandt“ werden müsse. 300 Jahre später ist diese Insel um ein kleines, aber wegweisendes Stück vergrößert worden. Die Zuschüttung des nördlichen Teils der Neustädter Havelbucht folgte pragmatischen Maximen, konnte dadurch die Breite Straße endlich mit der Zeppelinstraße verbunden werden. Von dieser verkehrsreichen Kreuzung geht man nur wenige hundert Meter Richtung stadtauswärts und biegt bei der ersten Querstraße links ab, bevor man nach einigen Schritten ein rund 300 m² großes Wandmosaik passiert. Vollendet wurde es 1981 vom Maler und Grafiker Peter Rohn, auf den zahlreiche Darstellungen im öffentlichen Raum von Potsdam zurückgehen. Und was, oder besser gefragt wer, ist nun an dieser Hauswand zu erkennen? Es handelt sich in der Tat um keine Geringeren als Adam und Eva! Ein durchaus gewagtes Motiv für ein Bauwerk realsozialistischer Prägung. Die Suche nach der Schlange und nach dem Apfel erweist sich letztlich aber als vergeblich. Dennoch – oder gerade trotzdem – enthält das Bild vielfältige Symboliken und Andeutungen, die zum Nachdenken über den Menschen und seine Ursprünge anregen. Was wohl der Herr von Nassau-Siegen dazu gesagt hätte?

 

 

 

 

Karl Liebknecht Golm/Eiche, Foto: Marc Banditt

Woche 3

 

Ecke Reiherbergstraße / Karl-Liebknecht-Straße
Als Karl und die Knechte zu Wahlsiegern wurden


12. Januar 1912: Das Unfassbare war eingetreten! Nach zwei missglückten Versuchen – 1903 und 1907 – hatte es Karl Liebknecht tatsächlich geschafft, den Wahlkreis Nr. 7 (Provinz Brandenburg – Regierungsbezirk Potsdam) für sich zu entscheiden. Ein Triumph im sogenannten Kaiserwahlkreis, der sich aus dem Osthavelland, Spandau und Potsdam zusammensetzte und eigentlich eine feste Bank der Konservativen war. Den Roten hingegen gelang damals ein Sieg auf ganzer Linie und Liebknecht selbst mit fast 25.000 erhaltenen Stimmen ein Husarenstreich mitten im Herzen der Hohenzollernmonarchie. Die Zeiten hatten sich also geändert, zumal es der letzte landesweite Gang zur Urne im Deutschen Kaiserreich sein sollte.
Nach seinem Eintritt in die Sozialdemokratische Partei (1900) war Liebknecht in der märkischen Residenzstadt sehr umtriebig gewesen, wo er bis heute einige Spuren hinterlassen hat. Zahlreiche Kundgebungen, Partei- und Wahlkampfveranstaltungen hatte der in Leipzig geborene Rechtsanwalt auf sich genommen, so auch am 31. Juli 1910 in Golm. Dort sprach er gegen das Dreiklassenwahlrecht – eine schwere Hypothek für die Herausbildung demokratischer Strukturen in Preußen.
Noch mehr als die Inschrift des Denkmals verrät uns die Chronik des Potsdamer Ortsteils über seinen Auftritt: „Liebknecht fand in Golm aufmerksame Zuhörer und große Zustimmung. […] Als [er], aus Potsdam kommend, hier eintraf, hatten sich schon ca. 50 Personen […] eingefunden. Er sprach etwa eine Stunde zu seinen Golmer Anhängern und unterhielt sich anschließend noch in kleinem Kreis“.1  Nun, wenn das so stimmt, scheint sich der Aufwand für den Wahlkämpfer am Ende ja gelohnt zu haben…   

 


1) 700 Jahre Golm. Ein Streifzug durch die Geschichte des märkischen Dorfes am Reiherberg, hg. vom Rat der Gemeinde Golm, Golm 1989, S. 68.

 

 

 

 

 

 

Karl Heinrich Schäfer, Foto: Marc Banditt

Woche 2

 

Meistersingerstraße 2
Im Glauben (und) gegen das Verbrechen
 

Karl Heinrich Schäfer hatte schon viel gesehen und noch mehr erlebt, bevor es ihn zu Beginn der 1920er-Jahre nach Potsdam verschlug.

Geboren 1871 im hessischen Wetter studierte der aus einfachen Verhältnissen kommende Schäfer evangelische Theologie in Greifswald, Erlangen und Marburg. Berlin, Kassel, Tübingen und Köln waren weitere Lebensstationen des mittlerweile promovierten Historikers. In der Rheinmetropole erhielt sein Leben eine entscheidende Weichenstellung: Der Übertritt zum Katholizismus 1902 führte prompt zum Verlust seiner Stelle am dortigen Stadtarchiv. Nur kurze Zeit später fand sich Schäfer in Rom wieder als Stipendiat der Görres-Gesellschaft, bis der Ausbruch des Ersten Weltkrieges seine Arbeit am Tiber beendete. Zwangsweise musste er den Campo Santo verlassen – jenen Ort, wo während der Christenverfolgung zahlreiche Martyrer starben – um mit eigenen Augen das Grauen der Moderne in Verdun zu sehen.

Nach dem Krieg ist er schließlich sesshaft in Potsdam geworden und beschäftigte sich ausgiebig mit der mittelalterlichen Kirchengeschichte Brandenburgs. Der Archivrat am neu gegründeten Reichsarchiv auf dem Brauhausberg musste sich unter seinen zahlreichen Kollegen aus dem Offizierskorps als Außenseiter fühlen. Mit nicht weniger Argwohn betrachtete Schäfer die an die Macht gekommenen Braunhemden, was auf Gegenseitigkeit beruhte – nach einer Denunziation folgte 1934 seine Versetzung in den Ruhestand. Er blieb ungebrochen und sein Haus in der Brandenburger Vorstadt ein geistiges Refugium für Gleichgesinnte. Zum Verhängnis wurde für ihn das Hören englischer Radiosender in Kriegszeiten; denunziert von der eigenen Hausangestellten geriet der Verratene in Haft, die er nicht überleben sollte.

Im Jahr 1999 ist Dr. Karl Heinrich Schäfer als Glaubenszeuge in das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts aufgenommen worden.

 
 
 
 
 
 
Grad Yorck von Wartenburg, Foto: Marc Banditt

Woche 1

 

Ecke Burgstraße / Joliot-Curie-Straße
Ein unehelicher Volksheld im Potsdamer Straßenwirrwarr

 

Als Carl Christian Horvath „Potsdam’s Merkwürdigkeiten“ verfasste, widmete er der alten Schusterstraße, die „lauter neue Häuser von zwey Geschossen“1  hat, nicht mehr als zwei Zeilen. Ob der Name Johann David Ludwig von Yorck dem Publizisten und Buchhändler am Ausgang des 18. Jahrhunderts schon geläufig war, mag bezweifelt werden, zumal jener bis dato in seiner militärischen Laufbahn eher unangenehm aufgefallen war. Das Vergehen: Insubordination.
Mehrere Jahre später sollte der mittlerweile rehabilitierte und mehrfach beförderte Yorck abermals seine Vorgesetzten missachten. Für ihn hatte sein Handeln (Genaueres verrät die Inschrift der Gedenktafel) dieses Mal jedoch nicht eine einjährige Festungshaft – wie noch im Jahr 1780 – zur Folge, sondern die Erlangung des Heldenstatus. Dem Initiator des Freiheitskrieges gegen Napoleon wurden seitdem nicht allein Denkmäler in verschiedenen Städten gesetzt, auch Kriegsschiffe und Kasernen sind nach ihm benannt worden, Beethoven widmete Yorck einen Militärmarsch, die Ufa drehte 1931 ihm zu Ehren einen ganzen Film.
In seiner Geburtsstadt Potsdam trugen bis heute gleich drei Straßen seinen Namen: jene entlang des westlichen Teils des Kanals (seit 1962), die heutige Kopernikusstraße in Babelsberg (von 1905 bis 1945) und zwischen 1864 und 1945 schließlich die kleine Straße in der Potsdamer Altstadt mit dem Yorckschen Geburtshaus, das am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde. Die Schusterstraße (von 1945 bis 1964 Novalisstraße) ist ebenso nicht mehr existent im Stadtgrundriss. Dort kam der spätere preußische Generalfeldmarschall am 26. September 1759 zur Welt, als unehelicher Sohn des Offiziers David Jonathan von Yorck und Maria Sophia Pflug, der Tochter eines Handwerkers. Und richtig, es stimmt, es gab früher auch eine Pflugstraße in Potsdam…

 

1)  Carl Christian Horvath, Potsdam’s Merkwürdigkeiten, beschrieben, und durch Plans und Prospekte erläutert, Potsdam 1798, S. 78.